036801_Illies_1913_RME_fin.indd

Bücher kommen und gehen. Einige werden zu ständigen Wegbegleitern eines langen Leselebens, während andere lediglich wie Sternschnuppen am literarischen Firmament aufleuchten (bei ihnen kann man sich zumindest etwas wünschen – und wenn es bessere Bücher sind). Die besondere Nachhaltigkeit eines Buches zeigt sich dann, wenn man als Leser immer wieder an seinen Inhalt oder seine Leitidee erinnert wird.

In diesem Jahr hat sich wohl kein anderes Buch so sehr in unseren Gedankenwelten verankert, wie 1913 – Der Sommer des Jahrhunderts von Florian Illies. Die Bestsellerlisten hat das farbige Kaleidoskop einer längst vergangenen Zeit schon lange erobert und sich dort beharrlich auf dem ersten Platz behauptet. Eine Entwicklung, die wir bereits im Januar erkannten. Dieses Buch ist etwa ganz besonderes – es hat diesen Platz mehr als verdient.

Wir haben keine normale Rezension zu 1913 verfasst. Wir haben uns auf eine Zeitreise eingelassen und unseren Lesern Ansichtskarten von den Orten geschickt, die wir im Buch besuchen durften. Wir haben Grüße hinterlassen und von den Menschen geschrieben, die wir ohne Florian Illies wohl niemals kennen gelernt hätten. Vom „Blauen Reiter“ über Gustav Klimt bis hin zu Rainer Maria Rilke… viele Legenden kreuzten unseren Weg, nicht ohne neue und bisher unbekannte Eindrücke zu hinterlassen.

Unsere Reise war nach dem Lesen nicht beendet. In memoriam Else Lasker Schüler haben wir auch Wochen später noch Postkarten geschrieben, als uns an bestimmten Tagen das Lesen einholte und wir an den Jahrestagen ihrer Geburt oder ihres Todes erneut und sehr lebhaft an diese Menschen erinnert wurden. Unsere Reise mit Florian Illies scheint auch heute noch nicht beendet.

Neben den Prominenten jenes Sommers kurz vor Ausbruch der Jahrzehnte der Kriege hat er uns mit den kleinen und scheinbar unbedeutenden Menschen bekannt gemacht, die diesem Jahr so sehr ihren eigenen Stempel aufgedrückt haben. Wir mussten recherchieren und lesen, Fachbücher konsultieren und in Archiven versinken, weil Illies uns neugierig gemacht hat auf die Randbemerkungen seines faszinierenden Buches.

Eine unserer ersten Postkarten handelte von jenen „verwunschenen Bildern“ aus den Anfangstagen der Fabfotografie. Florian Illies machte uns zu Zeugen der kleinsten Banalitäten dieses Jahres und verdeutlichte damit, dass es nicht wirklich Banalitäten waren – sondern vielmehr Pionierleistungen, deren Wert erst heute geschätzt werden kann.

Die Fotografien eines britischen Colonels, der seine Tochter in zeitlos schönen Bildern am Strand für die Ewigkeit festhielt, wurden nur in einem Nebensatz erwähnt… Aber genau dieser ließ uns zu einer Suche nach ebenjenen Bildern aufbrechen und wir waren mehr als erstaunt, als wir das Ergebnis unserer Recherche vor Augen hatten. Ein Soldat, der wenig später die von ihm mitentwickelten Flugzeuge in die Schlachten des Ersten Weltkrieges warf, gönnte sich in jenem Sommer des Jahrhunderts ruhige Mußestunden am Strand und experimentierte mit seiner Idealvorstellung von Fotografie.

Die Bilder von Christina am Strand strahlen nicht nur eine geradezu majestätische Zeitlosigkeit aus, sie machen dieses junge Mädchen für alle Epochen dieser Welt unsterblich. Die Wahl ihrer Bekleidung allein ist in den frühen Jahren der Farbfotografie Grundlage für diesen emotionalen Meilenstein. Rot… erst seit kurzer Zeit war man in der Lage, diese Farbe zu reproduzieren, aber genau bis zu diesem Zeitpunkt war es niemandem gelungen, dies auf solch beeindruckende Art und Weise zu realisieren.

Christina am Strand… unfassbar schön… unfassbar selten ein solcher Moment unvorstellbarer Ruhe im Einklang mit sich und seinem Leben. Man fühlt diese Bilder – man glaubt, die anbrandenen Wellen an der Küste von Dorset hören zu können und man spürt förmlich den Stolz des Vaters, der seiner Tochter ein visuelles Denkmal setzt. Es sind zugleich Traumbilder eines friedlichen Europas, das niemals zu Ende gehen mag. Diese Fotografien sind ein Traum und man findet sie immer wieder, wenn man über die schönsten Fotos in der Geschichte dieser Kunstrichtung spricht.

Im Jahr 2002 hat Christina sogar den Sprung auf ein Buchcover geschafft und damit der Zeitlosigkeit der Bilder das literarische ewige Leben als zusätzliche Dimension hinzugefügt. Zweifach unsterblich – und alles begann an einem schönen Tag des Jahres 1913 in Dorset.

Und doch umgibt diese Bilder und auch die späteren Portraits jenes Mädchens ein großes Geheimnis. Egal wo man sie findet, sie werden als Bilder der Tochter des Lieutenant Colonels Mervyn O’Gorman, jenes begnadeten Fotografen, gekennzeichnet. Auf den zweiten Blick jedoch kommen Zweifel auf, da weder Familienstammbaum noch offizielle Dokumente belegen, dass jener Flug- und Fotopionier überhaupt Kinder hatte. Alle Nachforschungen enden bei ihm und seiner Frau. Von einer Christina ist nirgendwo die Rede. Zumindest nicht als leibliche Tochter.

Wem also hat Mervyn O’Gorman hier wirklich ein Denkmal gesetzt – wer schaut ihn so erfüllt voller Zuneigung und Zärtlichkeit an – wer ist dieses Wesen, das nicht von dieser Welt zu sein scheint? Wir werden dies niemals ergründen können… es bleiben nur die Bilder… es bleibt nur der endlos tiefe Blick in die endlosen Weiten des Firmaments. Es ist eine Hommage an die Schönheit und die Unbeschwertheit der Jugend… es ist Wehklagen in der Vorahnung der aufziehenden Konflikte, in denen die Zukunft dieser Jugend nachhaltig vernichtet wurde.

Wir setzen uns an den Strand von Lulworth Cove und beobachten die Menschen in unserer Nähe beim gemütlichen Picknick, auch wenn wir nicht hören, worüber sie sprechen. Wir wollen auch nicht indiskret sein und alles wissen. Und plötzlich sehen wir den Mann mit dem Mädchen zum Wasser gehen. Sie flüstern einander Geheimnisvolles zu und er hebt die Kamera.

Die Erde bleibt stehen… sie dreht sich nicht mehr… Christina hat sie für einen Moment angehalten und blickt uns an, als wüsste sie, aus welchem Grund wir ihren Spuren gefolgt sind. Liebe Grüße aus dem Sommer des Jahrhunderts. Passt auf euch auf. Wir schreiben euch mal wieder aus dem Jahr 1913, aber jetzt bleiben wir noch ein wenig hier. Dieser Moment will genossen werden… in aller Tiefe.

Eure Literatwos

0 comments on 1913 – Der Sommer des Jahrhunderts – Verwunschene Bilder

  1. „Verwunschene Bilder“, eine sehr treffende Beschreibung dieser wunderbaren Fotografien voller Poesie, Anmut, Schönheit…
    Es leuchtet Mystik, Ewigkeit in ihnen, das macht sie so besonders. Lieben Dank für diese Empfehlung!

    • Das Buch selbst beleuchtet so viele dieser kleinen Begebenheiten des Jahres 1913 – und sehr viele davon bleiben haften und regen zur Recherche an.

      Auch diese Bilder werden eigentlich nur kurz erwähnt, aber das reicht Florian Illies einen eigenen Spannungsbogen bis zu ihnen zu bauen…

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert