Im Rahmen unserer Berichte zum Roman „25 Der Springer“ von Pierre Chiquet, erschienen im Bilger Verlag, haben wir unsere Leser gebeten, ihre eigene Meinung zum Buch zu schreiben. Bisher ist der Beitrag von Barbara Richter lediglich in Form eines Kommentars zu unserer Team-Rezension zu lesen.

Wir lösen mit der Veröffentlichung dieser Gastrezension unser Versprechen ein, einer ausgewogenen Betrachtung des Buches einen eigenen Raum zu geben um damit dem Autor so gerecht wie möglich zu werden!

Der Verleger Ricco Bilger bezeichnet die Besprechung von Barbara Richter als „…Balsam auf die Verleger- und Leserseele. Gerne würde ich diese Rezension in einem Feuilleton lesen.“

Diese Rolle übernehmen wir gerne.

Barbara Richter schreibt:

Weshalb hat noch niemand auf die Bedeutung des letzten Satzes hingewiesen?

Von ihm aus entschlüsselt sich das Ganze: “Ich begriff sofort, dass ich nur schreiben konnte, wie es nicht gewesen war.“

Der Erzähler gibt sich zuerst als Kommissar aus, dann als Gerichtsmediziner und schließlich als Portier/Schriftsteller. Jedenfalls hat er eine Frau getroffen, die Lene heißt. Über sie hat er begonnen zu schreiben, „…aber zunächst nicht darüber, wie sich alles zugetragen hatte, sondern so, wie es hätte sein können, als hätte ich Angst gehabt, daran zu rühren und es damit auszulöschen.“ Und: “Wäre es mit Lene eine Geschichte geworden, wäre ich nicht in der Lage, diese Zeilen zu schreiben, weil es nicht mehr nötig wäre, sie zu schreiben. Ich müsste unsere Geschichte, die gar keine Geschichte ist, nicht erzählen“.

Wenn der Portier/Schriftsteller die Geschichte seiner Liebe schriebe, würde er diese also zerstören, weil die Wirklichkeit nicht einfach erzählbar ist, sondern nur durch Gleichnisse, durch Poesie. Er schreibt Geschichten, die auf seine eigene verweisen. Seine eigene Liebesgeschichte bleibt im Dunkeln, ist aber durch den Text erahnbar.

Offener kann ein Buch kaum mehr sein. Manche mögen sie als „Leere“ empfinden, aber man muss als Leser diese Offenheit aushalten, einen Augenblick nur, und dann den Sprung wagen, und selbst nachzudenken beginnen – selbst zu erzählen beginnen und sich vorstellen, was der Portier/Schriftsteller und Lene in Wahrheit erlebt oder gelebt haben.

Ist nicht dies das Wesen der Literatur, dass sie uns zum Nachdenken bringt, dass sie ermöglicht, Eigenes zu entdecken – dass sie das Andere, das Fremde, das Unbekannte, das Unsichtbare erahnbar macht? Dass sie eine andere, mögliche Welt zeigt, das, was wir eben nicht sind, aber vielleicht werden können, wenn wir uns auf das Wagnis der Poesie einlassen.

„Der Springer“ ist in diesem Sinne ein wunderbar poetisches Buch (ein Krimi, was das Erzählen betrifft, wie der Verleger in diesem Blog treffend geschrieben hat), sehr geschickt und sorgsam konstruiert, das den Leser in die größtmögliche Freiheit entlässt. Aber wie in Platons Höhlengleichnis, in der der Mensch die Freiheit der Erkenntnis gar nicht will, ertragen manche Leser die Offenheit und Freiheit nicht: Sie mögen die einfache Kost, ein hübsch gebautes, geradliniges, geheimnisloses, gut verständliches und auflösbares Geschichtchen ohne Nachdenken und eigene Leistung. Die kriegt man täglich im Fernsehen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert