6 Uhr 41~ Jean-Philippe Blondel
6 Uhr 41~ Jean-Philippe Blondel

6 Uhr 41(Hanser) von Jean-Philippe Blondel habe ich wohl regelrecht inhaliert. Aber ist es ein Buch, welches man inhalieren kann? Inhalieren im Sinne von aufsaugen, vor Spannung kaum weglegen können? Nein, definitiv nicht, denn was passiert schon in einem Zug? Der Zug fährt und die Passagiere sitzen oft wie gewohnt nebeneinander oder sich gegenüber und warten auf die Ankunft des Zuges am Ort ihrer Wahl und sie hängen alle in Gedanken fest, wenn sie nicht gerade lesen oder spielen oder sich unterhalten.

Was soll denn an dieser Kulisse spannend sein? Wie kann so ein träges Bild faszinieren und ein scheinbar standbildmäßiger Ort geliebt und inhaliert werden?

Die Protagonisten sorgen dafür, dass aus dem scheinbaren schwarz-weißen Bild, ein buntes wird. Um wieviele Charaktere geht es denn, um den Zug mit Leben zu füllen? 10? 20? Nein, denn Autor Blondel benötigt nur zwei. Eine Frau namens Cécile Duffant und einen Mann namens Philippe Leduc. Das klingt nach schön kitschig und nach so einer Liebesstory auf der sich schon Spinnweben bilden. Nein, was denkt ihr denn.

Aber es wird gleich noch viel langweiliger klingen, wenn ich euch verrate, dass die zwei Personen überhaupt nicht miteinander reden. Zumindest kann man erst auf den letzten 20 des 188 Seiten dicken/dünnen Buches von miteinander reden, sprechen. Wieso das denn?

Tja, stellt euch vor, ihr kommt gerade aus dem Wochenende von euren Eltern und seid auf dem Weg nach Paris und trefft euren Ex-Freund, mit dem ihr mal vor fast 30 Jahren zusammen wart. Oder stellt euch vor, ihr seid auf dem Weg zu eurem Freund, der in Paris im Krankenhaus liegt und trefft im Zug dahin eure Ex-Freundin, mit der ihr mal vor fast 30 Jahren zusammen wart. Könnt ihr euch vorstellen, was dann passiert?

6 Uhr 41~ Jean-Philippe Blondel
6 Uhr 41~ Jean-Philippe Blondel

„Man kann sich nie vorstellen, wie tief bestimmte Sätze sich für immer verankern, dem anderen wie Holzsplitter unter der Haut stecken – um in ganz bestimmten Situationen seines Lebens aufzutauchen und alles kaputtmachen.“ (Seite 118)

Es passiert wirklich kaum etwas aktives. Was soll in einem fahrenden Zug, in dem die Menschen sich höchstens bewegen, um auf die Toilette zu gehen, schon passieren? Nichts – seht ihr. Aber es passiert doch allerhand, denn die Gedanken der Protagonisten fahren Achterbahn. Mit rasender Geschwindigkeit bewegen sich diese vor und zurück und zurück und vor und biegen ab und schlagen zur Seite aus. Wie Ameisen wimmeln die Gedanken durch die Seiten durch. Umtriebig, rastlos, emsig und immer wieder bereit auf Konfrontation zu gehen, wenn es zu feinfühlig, zu nah wird.

Cécile hat sich damals mit einer Ameise verglichen. Damals. Kein Mensch soll sie heute noch mit einer Ameise vergleichen können. Niemand. Außer…

„Schluss mit der Ameise!“ (Seite 156)

Und was ist mit Philippe? Ist er seit dem gemeinsamen Londonbesuch glücklicher? Was wäre wenn…

6 Uhr 41~ Jean-Philippe Blondel
6 Uhr 41~ Jean-Philippe Blondel

…ja, was wäre wenn.

Diese Frage schwebt über 95 Minuten zwischen Cécile und Philippe und gleichzeitig pflanzt Autor Blondel diese Frage seinen Lesern ein. Wir werden zum dritten Charakter und wir holen uns automatisch weitere Charaktere hinzu, welche uns damals enttäuscht haben, obwohl sie uns hätten nie enttäuschen müssen. Oder wir holen Charaktere hinzu, die wir selbst enttäuscht haben und schlüpfen im Gedankenexperiment ständig in den Rollen hin und her.

Was wäre wenn…

Ohne das Buch überhaupt zu kennen, huschen uns doch gleich viele Fragen durch Kopf, wenn wir daran denken, wenn uns das passieren würde, was den beiden Ex-Liebenden passiert. Wir würden zurück denken, wir würden die aktuelle Situation analysieren. Wir würden die schönsten und die schlimmsten Momente hervor kramen und wir würden Fantasien und Sehnsüchten Freiräume gewähren. Und am Ende von der ganz bestimmt nicht eingleisigen Gedankenfahrt, stehen wir vor einer Weiche. Eine Lebensweiche?

Ihr sucht ein Buch, welches in der ganz normalen, aber wirklich völlig normalen Gegenwart spielt, die Vergangenheit allerdings stark im Blick hat und trotz Gegenwart und Vergangenheit die Zukunft verändern könnte, verändern wird?

Dann nehmt den 6 Uhr 41 Zug und seid gespannt, was in den nächsten 95 Minuten passiert. Einfühlsam und doch erschreckend ehrlich und direkt nimmt uns Jean-Philippe Blondel mit auf eine Reise, die wohl keinem von uns gänzlich fremd ist…

Eure
literatwo_banner

1 Comment on 6 Uhr 41~ Jean-Philippe Blondel

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert