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Drei Jahre sind inzwischen vergangen und es wird Zeit, einen Blick zurück zu werfen und darüber nachzudenken, was jener Klotz von Buch, jenes Mammutwerk Unendlicher Spaß von David Foster Wallace bei mir langfristig ausgelöst hat. Und nicht nur bei mir alleine. Xenos

Im Jahr 2009 war es eine bewusste Leselebensentscheidung, dieses Buch zu lesen. Es galt als „en vogue“ und bei näherer Betrachtung konnte man feststellen, dass viele Leser, die sich in ihrem Umfeld mit diesem weißen Ziegelstein zeigten, diesen lediglich als intellektuelles Statussymbol bei sich trugen – gelesen hatten es nicht viele. Geredet hat plötzlich jeder darüber.

Das sollte mir so nicht passieren. Ich entschied mich dazu, alle Lesepläne über Bord zu werfen und mich dann doch für insgesamt mehr als zwei Monate aus dem Vielleser-Leben abzumelden und in einem Werk zu versinken, das so viel Tiefe bot, dass man in diesem Bermudadreieck der US-amerikanischen Literatur verschwinden konnte.

Nichts ist lebendiger, als die Rezension von einst – nichts ist eindringlicher als die Zeilen unmittelbar nach dem Schließen des letzten Kapitels – nach dem Lesen des letzten Satzes und nach dem letzten gemeinsamen Atemhauch mit „Unendlicher Spaß“. Hier sind sie nun… umgebettet aus meinem ehemaligen kleinen Literaturcafé in das moderne und gediegene Ambiente unserer literatwoischen Villa. Diese Zeilen gehören hierhin. Sie sind ein Muss…. Ohne sie macht vieles keinen Sinn… sehr vieles…

David Foster Wallace – Unendlicher Spaß – Rezension 2009

Hier liegen sie nun gestapelt, vorwurfsvoll schmollend neben mir.

“Die Karte meiner Träume” unter dem “Winter in Maine”, zwischen “Limit” aber über “2666” und scheinen miteinander zu kommunizieren. Sie lachen und wollen Recht behalten – sie schauen mich an als wollten sie sagen “Siehst Du – wenn Du auf “Unendlicher Spaß” verzichtet hättest, dann wären wir jetzt Teil Deines Lebens, unsere Bilder wären die Deinen“ und sie fragen, „Na Raily, hat es sich gelohnt auf uns zu verzichten, uns zwei Monate lang zu ignorieren?”

Und ich frage mich, ob sie Recht haben.

„Unendlicher Spaß“ ist die Geschichte einer modernen amerikanischen Gesellschaft, die unter einem Schleier aus Kommerz, Sucht, Ablenkung und Oberflächlichkeit versinkt, und in der sich das Individuum nur in tiefer versagensangstbedingter Depression oder durch Drogenabhängigkeit der brutalen Realität entziehen kann.

Dieses Amerika ist nicht mehr imperialistisch – nein im Gegenteil – Experialismus ist die Maxime des Handelns. Eigene Territorien werden dem Nachbarn Kanada aufgezwungen, um dann aus diesen ehemaligen US-Gebieten riesige Mülldeponien entstehen zu lassen.

Aktivistengruppen ersinnen einen einzigen, Erfolg versprechenden Plan um ihr Land zu befreien und den großen Nachbarn mit seinen eigenen Waffen endgültig zu besiegen.

Der angehende Tennisprofi Hal Incandeza erlebt den zermürbenden Leistungsdruck in der vom Doping verseuchten Tennisakademie in Boston. Sein Bruder Orin ist vor diesem Druck geflohen und hat nach einer Affaire mit der schönsten Frau der Welt, Joelle, nie mehr rechten Boden unter die Füße bekommen. Ihr Vater James hat kurz vor seinem Selbstmord einen Film mit ebenjener Joelle produziert. Die Unterhaltungspatrone (so werden diese DVDs sehr passend bezeichnet) heißt “Unendlicher Spaß” und man sagt dem Film nach, dass er den Betrachter in eine tödlich endende Abhängigkeit versetzt. Seit James` Suizid gilt der Film als verschollen.

Die Kanadischen Freiheitskämpfer, durch misslungene Mutroben an Rollstühle gefesselt, setzen alle verfügbaren Hebel in Bewegung, um in den Besitz dieser Patrone zu gelangen und der amerikanischen Gesellschaft durch Veröffentlichung im Kabelnetz den unterhaltsamen letalen Fangschuss zu versetzten.

Sie ziehen ihr Netz eng und enger, bis letztlich nur der direkte Zugriff auf die unmittelbar am Film Beteiligten und die Familie des Regisseurs zum Masterplan reift.

Ja – ich frage mich am Ende des Buches, ob mein Stapel der ungelesenen Schätze Recht hat. Ich habe mir durch das Lesen des “Unendlichen Spaßes” quasi selbst die Patrone an den Kopf gesetzt, bin der Unterhaltung erlegen und habe anderen Werken dauerhaft entsagt.

Ich versank in den Bildern, kann nicht mehr an Mikrowellengeräten vorbeigehen ohne darüber nachzudenken, wie man sich darin umbringen kann; denke bei Frauen mit Designer-Handtaschen an transplantierte Außen-Kunstherzen, die von einem Taschendieb gestohlen werden könnten; sehe in Rollstuhlfahrern potenzielle Anarchisten; lache bei dem Gedanken, dass es auf der Welt zu einem gegeben Zeitpunkt immer nur eine begrenzte Anzahl an Erektionen gibt; bekomme die Geschichte mit dem Besen einfach nicht mehr aus dem Kopf und ich weiß Schönheit jetzt wie folgt zu definieren:

“… als hätte sich das Licht der ganzen Welt verdichtet und Gesichtsform angenommen.“

Ich bin der Sucht erlegen – ich kann das Buch nicht empfehlen, nur davor warnen. Man muss wissen auf was man sich einlässt und es dann mit jeder Faser des Geistes tun. Wenn man sich einlässt, dann erwartet den Leser von David Foster Wallace ein Meilenstein moderner Literatur.

Ich bin auf Entzug und werde versuchen, bei meinen verschmähten Büchern Zuflucht zu finden – was ich jetzt brauche ist ein Marschflugkörper von einem Beruhigungsmittel…

Es war um mich geschehen. Die aufgezwungene Enthaltsamkeit kam mir vor, wie ein mehrwöchiger Aufenthalt in einem Kloster – kein Buch weit und breit und nur David Foster Wallace in meinem Kopf. Je mehr sich der Inhalt verfestigte, umso weniger Gespräche konnte ich über das Buch führen, denn außer ein paar „Abbrechern“ fand ich niemanden, der die Dimension dieses Werkes mit mir teilen konnte oder wollte. „Unendlicher Spaß“ hat schrecklich einsam gemacht. Mitleidvolle Kommentare zu meiner „Einkehr“ erreichten mich auf Lovelybooks und in einem Zustand geistiger Isolation begab ich mich zu meiner ersten Buchmesse in Frankfurt.

Nur ein Ziel vor Augen – den KiWi – Verlag und ein „fast“ unverkäufliches Exemplar einer kurzzeitig erhältlichen Ausgabe „Über Unendlicher Spaß“ zu ergattern. Was dann geschah, ist auch aus heutiger Sicht nur als magisch zu bezeichnen. Ich begegnete einem Menschen, der nicht eine Zeile in diesem Buch gelesen hatte und doch ebenfalls auf der Suche nach dem kleinen Taschenbuch-Kleinod war. Warum auch immer. Ein kurzes Gespräch hat gereicht… ich konnte nicht anders, als die Bedeutung des Romans auf eine kurze Episode zu komprimieren. Mehr Zeit war nicht.

Ich erzählte von einer Frau, die ein transplantiertes Außen-Kunstherz in einer Designerhandtasche mit sich herumtrug. Verbunden mit jenem lebenswichtigen künstlichen Organ lediglich durch ein paar unbedeutende Kabel. Ich erzählte von jenem Taschendieb der ihr diese Tasche von der Schulter riss und sie nach enttäuschtem Blick auf den, für ihn, so wertlosen Inhalt, ein paar Straßenzüge weiter in einen Müllcontainer warf. Ich erzählte von jener Frau, die auf der Straße liegend den eigenen Herzschlag dumpf und monoton aus diesem Container vernahm, während sie herzlos starb…. All das erzählte ich.

Bianca war meine Zuhörerin – und ohne je eine Zeile in „Unendlicher Spaß“ gelesen zu haben, war es so als hätte ich ihr in wenigen Sätzen das gesamte Buch erzählt. Es scheint mir noch heute, als wüsste sie um jede Seite, um jeden Satz und jedes Bild in diesem Roman. Der Rest ist Geschichte.

2009… der Beginn… das erste Treffen…

Nur aus diesem Grund sind wir gemeinsam hier… diese Episode war der Beginn unserer Lese-Lebensgemeinschaft. Literatwo entstand auf diese Art und Weise.

Was für eine Erfüllung es dann war, schließlich das kleine limitierte Taschenbüchlein in Händen zu halten, verstehen wohl nur wahre biblioman veranlagte Leseratten. David Foster Wallace hatte sich in meinem Geist eingenistet und ich beschäftigte mich fortan intensiv mit seinem Leben und seinem Werk. Wahre Bücherketten löste „Unendlicher Spaß“ aus und hier bei Literatwo ist jedes dieser Bücher verewigt worden. Eine kleine Artikelübersicht findet ihr genau hier

Mein Dank gilt immer wieder den Verlagen Kiepenheuer & Witsch und Rowohlt, die unabhängig von Verkaufszahlen und Markterfolg die Fahne dieses Autors hoch halten. Ohne ihre Bemühungen, wären seine Geschichten nicht dauerhaft in unseren Regalen beheimatet. Und dies auch noch dreieinhalb Jahre nach seinem tragischen Selbstmord…

Entschuldigt, wenn ich so oft von ihm schreibe… aber ich kann nicht anders… es ist ein Muss…

Eine Lesekette – ausgelöst von „Unendlicher Spaß“

5 Comments on David Foster Wallace – Literatwo und „Unendlicher Spaß“

  1. Du liebe Güte, ich habe gerade eine Gänsehaut bekommen. Unbekannterweise euch dann alles Gute für die Zukunft. Ich habe den unendlichen Spaß nur so verschlungen, es hat mich eine ganze Woche Urlaub gekostet und mein Freund hatte Probleme, mich von den weißen Wälzer wegzubekommen. Aber es hat sich gelohnt und ich bin schon sehr gespannt, wie mir die anderen Wallace-Werke gefallen werden.

  2. Danke für die Gänsehaut… und das geteilte Gefühl, dass es sich gelohnt hat. Aber dieses Buch in einer Woche zu lesen… wow… unvorstellbar – wahrlich unvorstellbar….

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