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„Kurz vor dem Einschlafen hatte er den Eindruck, zum ersten Mal die ganze Schrecklichkeit dessen zu erahnen, was vorging. Eine neue Zeit begann, eine nackte Zeit, die Dauer verhieß und deren Schlüsselbegriff „ohne“ sein würde, wie der der vorangegangenen Epoche „mit“ gewesen war.“

An der Seite von Leonardo begeben wir uns in diese neue dauerhafte Zeit, in der nichts mehr ist, wie es einmal war. Schleichend aber unaufhaltsam beraubt das „Ohne“ jenes zur Gewohnheit gewordene „Mit“ jeglicher Grundlage und katapultiert den Menschen an den Boden der lehrbuchkonformen Bedürfnispyramiden.

Italien ohne Benzin, ohne funktionierendes Währungssystem, ohne staatliche Ordnung, ohne Internet und Telefon, ohne Güterverkehr, ohne jegliche Struktur… Ein Italien in nicht so ferner Zukunft, so ganz ohne alles, was Sicherheit und Leben verspricht.

Hier lebt Leonardo – 52, Schriftsteller, Intellektueller, gescheiterter Professor, geschieden – inmitten dieser um sich greifenden Leere und versucht sich abzufinden. „Es wird schon wieder gut“ – so sein Denken. „Ich komme schon damit zurecht“ – so sein Gefühl… „Es könnte schlimmer sein“ – so sein Trugschluss.

Ein Gelehrter in einem Umfeld, das um sein Überleben kämpft wirkt als Fremdkörper. Essen, Wärme, Schutz…. Alles muss selbst organisiert werden. Aus dem Dorf in dem er lebt wird eine eigene, abgeschottete Welt. Extern ist jeder, der nicht dort wohnt. Externe sind diejenigen, die Gefahr verheißen. Vor Externen gilt es sich zu schützen.

An den Grenzen soll das Chaos toben. Den Nachbarländern soll es nicht besser gehen – so hört man. Gewissheit gibt es jedoch nicht. Und unter all jenen Kämpfern um das tägliche Dasein: Ein Intellektueller, der es nie gelernt hat für sich oder andere einzustehen. Ein in sich zusammengesunkener Mann… horizontal verweilend… in sich gefangen, fast leblos.

Bis seine ehemalige Frau auftaucht, ihm seine Tochter und ihren Sohn aus zweiter Beziehung übergibt und ihn bittet, für beide zu sorgen, bis sie ihren jetzigen Mann ausfindig gemacht hat. In den Wirren verschwunden… in den Reihen der Nationalgarde verschollen… so ihre Vermutung.

In der Welt des „Ohne“ findet sich Leonardo nun mit einem ungewohnten „Mit“ konfrontiert: mit seiner Tochter Lucia. Abstrakte Gefühle beginnen in ihm zu keimen. Verantwortung tragen und für jemanden sorgen – bisher unbekannte Denkwelten für Leonardo.

Genau in dem Moment des Erwachens väterlicher Gefühle wird diese kleine Welt von einem Orkan marodierender Jugendlicher überrollt, die ihrem charismatischen Führer Richard und dessen neuen Göttern „Droge, Gewalt und Sex“ bedingungslos folgen. Leonardo wird als Gefangener von einer Welle der Gewalt an den Rand des Wahnsinns gespült. Zum Tanz in den Flammen erniedrigt, verbrennen nicht nur seine Füße – auch sein Inneres lodert angesichts der Qualen, die Lucia zu erdulden hat.

In seinem Käfig nur ein einziger Gefährte… ein einsamer Elefant. Standhaft… ein Koloss… ein Halt.

Gemeinsam durchbrechen sie den Kreislauf aus Gewalt und Tyrannei, befreien Lucia und begeben sich in Begleitung weniger Menschen und eines Esels auf eine verzweifelte Flucht. Nur ein Ziel vor Augen… sich selbst treu zu bleiben, sich selbst nicht zu verlieren und gemeinsam in Würde zu leben…. Und dies bei all dem „Ohne“, das sie umgibt wie ein Kokon aus Verlust

Hier beginnt der Roman das Versprechen seines Titels einzulösen…. Der aufrechte Mann…..

Davide Longo hat eine wahrlich grandiose Erwachsenen-Dystopie verfasst. Bestechend ist hierbei die Perspektive, die man als „Leben im Symptom“ bezeichnen muss. In einer Situation, in der niemand den Überblick hat, gewährt er auch seinen Protagonisten und letztlich dem Leser niemals den Blick auf Ursachen. Nur die Auswirkung – das „Ohne“ – ist greifbar. Niemals das „Warum“. Genau dies macht den Roman greifbar und packend, man hat sich mit der Situation abzufinden um das Beste daraus zu machen, oder unterzugehen.

Dabei durchwandern wir ein „ortloses“ Italien. Städte und Dörfer werden nur mit einem Buchstaben genannt, wodurch die Dimesnion des „Überall“ entsteht. Überall spielt dieser Roman – zeitlos – raumlos.

Uns bleibt keine Wahl. Wir spiegeln lesend unser eigenes Leben. Wären wir überlebensfähig in dieser Welt des „Ohne“? Könnten wir in diesem absoluten Gegenentwurf zu unserer globalisierten Gesellschaft unsere Wertvorstellungen retten, oder würden wir fortgespült? Wie lange würde es dauern bis zum endgültigen und letzten Versagen.

Davide Longo entwirft hierbei kein Bild einer neuen Gesellschaft, (Vergleiche mit dem „Herrn der Fliegen“ sind wenig angebracht) – er schildert die beginnende Auferstehung nach dem tiefsten Fall und hält uns vor Augen, dass die Denker unserer Welt, all die Intellektuellen, spätestens dann wieder gesucht werden, wenn das erste Gefühl von Sicherheit in unserer Seele Raum gewinnt.

Longo hat einen psychologischen und dunklen, gewalttätigen Roman geschrieben. Und doch ist es im Angesicht des Endes seiner Erzählung DAS große Hoffnungsbuch dieses Jahres. Es strahlt in Dimension und Aussagekraft so energisch wie kein Zweites. Wir haben das Buch durchlitten und durchhofft, durchzweifelt, durchstaunt und durchweint… und letztlich standen wir lachenweinend Hand in Hand vor dem Beginn einer neuen Zeit.

Ich sehe seitdem in meinen Träumen das Bild eines Mannes mit einem Elefanten an seiner Seite… aufrecht gehend, dem Meer zugewandt, zielstrebig und ungebrochen. Ich sehe dieses Bild sehr oft und es hat mir viel bedeutet, dieses Bild zum Teil dieser Besprechung zu machen.

Es steht für alles in diesem Buch…

0 comments on DER AUFRECHTE MANN von Davide Longo

  1. Ein schöner Moment ist immer das direkte Feedback des Autors zu einer Besprechung. Wir haben Davide Longo den Link zur Rezension zugeschickt, wissend, dass der deutsche Text ihm wohl wenig sagt, aber hoffend. dass er an den Bildern sieht, was sein Buch mit uns gemacht hat.

    Das letzte Artikelbild mit dem Elefanten lag der Rezension bei!

    Seine Antwort hat uns berührt:

    Davide Longo:

    „Thanks for the review. Unfortunately I can not read German, but I trust that it is good. The photos are beautiful, especially this photo. I hope to meet you in my next lecture tour in Germany.

    You will recognize me because I have this picture on my shirt. hugs“

    ——–

    ohne Worte

  2. Das ist eine wirklich beeindruckende Besprechung, die ich sehr gerne gelesen habe. Das Bild ist phantastisch und drückt so viel aus …
    Ich hatte das Buch von Davide Longo schon länger auf meiner Zu-Lesen-Liste, habe mich aber nicht so recht rangetraut. Das wird sich jetzt auf jeden Fall ändern. 🙂

    Es freut mich auch, dass du so eine tolle Rückmeldung vom Autor selbst zu deiner Rezension bekommen hast. Das ist wahrscheinlich wirklich das größte Lob, was möglich ist!

  3. Danke für diese absolut freundlichen Worte – und ja – der Kommentar von Davide Longo hat sehr tief getroffen.. mitten ins kreative Herz, da man merkt, dass es manchmal keiner Worte bedarf um zu zeigen, wie berührend ein Buch war…

    Es reichen auch Bilder… die sind international 😉

  4. Whow, eine grandiose Rezension, die so sehr berührt, dass ich gefühlsmäßig schon im Geschehnis drin bin und die bedrückende Stimmung zu spüren scheine.
    Ich mag das Buch prinzipiell gerne lesen, finde das Setting aber auch sehr bedrückend,da es sehr real ist und man tatsächlich immer im Hinterkopf haben wird: Was wäre wenn … Dennoch vertraue ich auf eure Worte, die das Buch als DAS Hoffnungsbuch betiteln und setze es direkt mal auf meine Wunschliste.
    Die Rückmeldung vom Autor ist so großartig. Was kann einen Rezensenten mehr erfreuen.
    Wirklich toll!!

    LG Nanni

    • Deine Worte sind ebenfalls bewegend und du kannst Davide Longo voll vertrauen.

      Er bringt dich trotz des bedrückend realen Setting sicher nach Hause. Keine Sorge… nur der Weitblick ist neu eingestellt 😉

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