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Herzlich willkommen in Edinburgh. 

Und das „Herzlich“ meinen wir ernst, obwohl wir an diesem 16. April 1874 gerade den kältesten Tag seit ewigen Zeiten erleben. Menschen erfrieren in den verlassenen Gassen der Stadt, Vögel fallen tot vom Himmel und zu Eis erstarrte Tränen kullern über das rutschige Kopfsteinpflaster.

Und doch: Herzlich willkommen, denn wir feiern den Geburtstag von Jack. Genau an diesem frostigen Tag erblickt ein ganz besonderer Junge das Licht der Welt. Eigentlich kein guter Tag für eine Geburt. Die eigene Mutter will ihn nicht behalten und die als Hexe in Verruf geratene Hebamme Dr. Madeleine hat alle Hände voll zu tun. Und dann passiert auch noch, was passieren musste. Das Herzchen des kleinen Jack schlägt nicht….

Es ist erfroren, bevor es auch nur einmal im Licht des Tages schlagen konnte.

Dr. Madeleine handelt schnell. Nichts scheint unmöglich in ihrem Haus. Sie verbindet das Herz mit einer kleinen Kuckucksuhr und angetrieben von dieser zuverlässigen Mechanik beginnt es damit, dem kleinen Jack Leben einzuhauchen.

Jeder Herzschlag ein Wunder – und bis auf das Ticken der Uhr, die sichtbaren Zeiger auf Jacks Brust und die Tatsache, dass sie regelmäßig aufgezogen werden muss, gibt es nur ein paar kleine Regeln, die zu berücksichtigen sind, um fortan in Frieden Leben zu können:

Sich nicht verlieben zu dürfen, weil das kleine Uhrwerk dies nie verkraften würde – nun, dies scheint für den jungen Jack eine erträgliche Nebenwirkung zu sein. Damit lässt sich leben – denkt er. Bis er im zarten Alter von 10 Jahren der kleinen Flamencotänzerin Miss Acacia begegnet.

Sein Herz spielt sofort verrückt und das kleine Uhrwerk droht zu verglühen. Was würde erst geschehen, wenn er alle Gefühle zu verkraften hätte, die mit der Liebe einhergehen? Wie käme er mit Eifersucht, Sehnsucht und Leidenschaft zurecht? Doch so schnell, wie Miss Acacia in seinem Leben auftaucht, so schnell verschwindet sie wieder. Nach Andalusien, so sagt man…

Vier lange Jahre vergehen, doch Jack hat seine kleine Tänzerin nie vergessen. Die drohende Gefahr des mechanischen Herztodes schlägt er in den Wind und beginnt verzweifelt um seine Liebe zu kämpfen…

Eine wahre Herzensreise nimmt ihren magischen Verlauf…

Die Mechanik des Herzens“ von Mathias Malzieu ist ein Roman der großen Gefühle und magischen Begegnungen. Ein mehrdimensionales Märchen für Erwachsene, in dem der mechanisch angetriebene Herzschlag den Rhythmus bestimmt.

Die Faszination dieser emotionalen Geschichte erschließet sich jedem Leser, dessen Herz für die wahre und unverfälschte Liebe weit geöffnet ist. Nichts läuft mechanisch ab in „Die Mechanik des Herzens“! Organisch fühlen sich die märchenhaften Handlungsfäden an, die wie Adern zu pulsieren scheinen.

Das Herz dieses Romans schlägt auf seine eigene Weise. Es überträgt seine Arrhythmien auf den Leser. Herzrasen, -klopfen und -stillstand sind sowohl Begleiterscheinungen als auch Nebenwirkungen des Lesens. Man kann es nicht aufziehen, es läuft nicht wie ein Uhrwerk, es hat ein Eigenleben, es ist empfindlich und kann gebrochen werden… Oh ja.. das kann passieren…

Die Zeit verliert ihre Dimension durch die Sprache Malzieus. Die Geschichte, die im Jahr 1874 beginnt streckt ihre Fühler in unsere Tage aus. Sie überwindet diese Grenzen durch die geschickte Wahl von Wörtern und Bildern, die es gegen Ende des 19. Jahrhunderts niemals gegeben haben kann.

Wir fühlen Hubschrauber im Herzen; empfinden lange Reisen wie eine nie enden wollende Etappe der Tour de France; sind dabei, wenn Zimmer laserartig durchsucht werden; werden Zeuge, wenn Jack sich am liebsten an einen anderen Ort teleportieren möchte; können nachempfinden, dass  eine funkensprühende Stimme so wirkt, als sei sie aus Erdbeertränengas und sehen Personen, die sich uns in Zeitlupe nähern.

Wie Wortsamen hängen diese Begriffe an Pusteblumenschirmchen fest und schweben in unser heutiges Leben. Dimensionslose Größe erreicht man durch dieses ungewöhnliche Stilmittel, das in jedem historischen Roman zum störenden Fiasko würde. Genau hier jedoch öffnet sich unser Herz, verweigert jegliche rationelle Mechanik und pumpt frisches Wörterblut in den Kreislauf der Geschichte. Grandios einfach – einfach grandios.

Die einzige konstante Dimension ist Miss Acacia. Sie ist ewig. Sie steht für das zeitlose Ziel allen Begehrens, symbolisiert den Grund für jedes Liebesopfer und ist in ihrer Unschuld selbst so sehr verletzbar.

Als hätten sich alle Sirenen der Weltliteratur in ihr vereinigt (Helena, Dulcinea, Esmeralda) tanzt sie in aller Wildheit den Flamenco des Lebens und hinterlässt ihre Spuren mit jedem einzelnen „Klack“ ihrer Tanzschuhe.

Sie gibt den Takt der Liebe vor und ist dabei selbst die ewig Suchende, getrieben von der Sehnsucht nach der unschuldigen Sehnsucht und dem jungfräulichen Begehren eines alles wagenden Herzens. Ob sie es bei Jack findet?

Die Moral der „Mechanik des Herzens“ wiegt schwer. Herzen können Herzen brechen. Herzen können im Lauf der Zeit herzlos werden. Auch mechanische Herzen können organische Motoren der Liebe sein und man kann sich doch in jedem Herzen täuschen. Weit weg von jeder Mechanik – weit weg von jedem Rational.

Niemals wurde ein Herz treffender beschrieben als in diesem bahnbrechenden  Märchen.

Literatwo kann euch dieses Buch nur ans Herz legen, da wir unsere Herzen zwischen den bewegenden Seiten verloren haben. Genießt den Luxus, die Geschichte unverfälscht zu erlesen, bevor die Verfilmung im Kino erscheint. Gönnt es euch, die Bilder Malzieus selbst zu entdecken und sie zu euren Bildern zu machen. Es lohnt sich so sehr!

Herzlichst, Literatwo 

0 comments on Die Mechanik des Herzens – Der Pulsschlag des Lesens

  1. Ich hab‘ es nun auch gelesen!!! *stolz*

    Mein Lieblingssatz: „Ihre Brüste sind zwei kleine Baisers, so wohlgeformt, dass es unhöflich wäre, sie nicht auf der Stelle zu vernaschen.“

    Aber ein wenig eigenartig, dass so ein kleiner Junge zu solchen Gedanken fähig ist.

    Insgesamt hat mir das Buch gut gefallen. Nur das Ende passte nicht so richtig…

  2. Uns hat gerade das Ende gut gefallen, da es nicht einfach weichgespült auf Happy End rausläuft. Wenn sich Herzen ändern und sich damit der Mensch vom abenteuerlustigen, aufrichtig liebenden Wesen zu einem kalkulierbaren und letztlich eher mechanischem Wesen entwickelt, muss er sich nicht wundern, wenn genau das nicht gesucht wird…

    Wir sehen hier im Ende des Romans eher einen Appell an das Herz, so zu bleiben wie es war, als es zum ersten Mal aufrichtig liebte…

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