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Es gibt immer wieder Bücher in unserem Leben, die uns an den Wurzeln unserer Existenz berühren und Fragen aufwerfen, vor deren Beantwortung wir eher zurückschrecken. Wie hätten wir uns in den Jahren der NAZI-Diktatur verhalten? Wie hätten wir auf die Ungerechtigkeit in unserem Umfeld reagiert – und wesentlich schlimmer – wie wären wir damit umgegangen, wenn wir zur Gruppe der Verfolgten gehört hätten?

Gedanken, die unbeantwortet im Raum stehen. Gedanken, die keine Antworten finden und oftmals Gedanken, die verdrängt werden möchten. Vielleicht aus Angst vor der einen Antwort, die den Atem rauben könnte: Feigheit, Selbstaufgabe oder Willenlosigkeit.

Ein Flüstern in der Nacht von Moya Simons (CBJ) ist im Bereich der aktuellen Jugendbücher (Erscheinungsdatum: 22.10.2012) ein leuchtendes Beispiel für eine aufrüttelnde, emotionale und doch hoffnungsvolle Geschichte im dunkelsten Kapitel der deutschen Zeitgeschichte. Der auf realen Fragmenten beruhende Roman ist ein zeitloser Zeitzeuge, der Jugendliche zur rechten Zeit mit den wesentlichen Fragen des Lebens konfrontiert und uns Erwachsene einen tiefen Blick in die eigene Lebensphilosophie werfen lässt.

Wir befinden uns im Leipzig des Jahres 1938 und erleben den Alltag im Leben des fünfjährigen jüdischen Mädchens Rachel. Aus ihrer Sicht sehen wir, wie sich im Laufe der kommenden Jahre die Schlinge des NAZI-Regimes enger um sie, ihre Familie und die jüdischen Mitbürger zieht. Die Reichskristallnacht hinterlässt ihre Spuren und die Lebensbedingungen in einem Land, das seine Unschuld kollektiv verloren hatte, werden Tag für Tag unmenschlicher.

„Kauft nicht bei Juden“, eine der Parolen, die man Rachel noch nicht vorliest, um sie ihre Kindheit genießen zu lassen. Ausgehverbot ab 20:00 Uhr, eine der Repressalien, die man ihr spielerisch zu vermitteln versucht. Die Rationierung des Essens; das Verbot öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen; das Tragen des „Judensterns“ und im Jahr 1941 schließlich der Verlust der eigenen Wohnung; die Umsiedlung in ein „Judenhaus“ – Meilensteine auf dem Weg der Entrechtung.

Rachel spürt mehr und mehr, wie eng es im Leben der Familie wird. Ihre ältere Schwester Miri führt verzweifelt Tagebuch, um zumindest in der tiefe der Zeilen abtauchen und fliehen zu können. Für eine richtige Flucht ist es längst zu spät. Die Eltern stehen der Entwicklung hilflos gegenüber und fügen sich der Gewalt. Rachels Mutter strickt gegen ihre Verzweiflung an und so entsteht „der längste schal der Welt“ – Masche um Masche eine Erinnerung an ein Leben vor dem Chaos.

1943 bricht Rachels Welt völlig zusammen. Sie ist 10 Jahre alt, als die GESTAPO die Familie zur Deportation aus der Wohnung abholt. Jeder Leser weiß, was dies bedeutet. Der Holocaust – die Vernichtung klopft an die Tür eines kleinen Kindes.

Hier beginnt der Vater endlich zu handeln. Er versteckt die kleine Rachel unter der Spüle und schärft ihr ein:

„Denk daran, du rührst dich nicht, egal was du hörst. Du musst ganz still sein, wie ein Mäuschen.“

Das sind die letzten Worte, die Rachel hört, bevor sie einsam und verlassen die Geräusche der abfahrenden LKWs hört. Allein. Verlassen. Ohne Familie. Ein letzter Akt der Hoffnung musste den Vater veranlasst haben, sich in diesem Moment lieber von seinem Kind zu trennen, als mit Rachel gemeinsam ins KZ zu kommen. Rachel bleiben nur „der längste Schal der Welt“ und das Tagebuch ihrer Schwester.

Rachel wartet und bewegt sich nicht, bis sie von Deutschen entdeckt wird, die sich mit der Plünderung des jüdischen Eigentums über Wasser halten. Eine Frau blickt mit Rachel dem Schicksal ins Gesicht und beschließt, das Mädchen zu verstecken. Die ersten Worte, die Rachel allerdings vom Enkel ihrer Retterin vernehmen muss, lassen sie in Schweigen und Verzweiflung versinken:

„Ein Kind ist sie schon, aber kein Mensch!“

Moya Simons hat ein wahrlich wichtiges und großes Jugendbuch geschrieben. Wichtig und groß nicht nur aufgrund der Art und Weise, wie sie diese Geschichte erzählt. Wichtig und groß, weil sie ihre kleine Rachel nicht alleine lässt. Sie stellt ihr Menschen an die Seite, die nicht blind sind für das Leid. Sie gibt auch den Deutschen einen Platz im Roman, die unter Einsatz ihres Lebens helfen wollten und Wege fanden, dies zu tun.

Es mögen nicht viele gewesen sein, aber es hat sie gegeben. Und so können wir Rachel auf ihrem Weg in die Zukunft begleiten. Werden Zeuge ihrer Befreiung und der Versuche, ihr in einem Flüchtlingsheim in England das Sprechen beizubringen. Bis zum Ende des Jahres 1945 hat sie kein Wort mehr gesprochen.

„Papa, bitte sag mir, dass ich ab jetzt wieder sprechen darf.“

Diese Bitte bleibt lange Zeit unerhört…

Dann kommen die Briefe, dann beginnt das Leben, dann kommen die tragischen Verluste, dann kommt die Zukunft. Moya Simons schenkt ihren Lesern und Rachel kein ungetrübtes Happy End – aber sie schenkt uns den Glauben an ein kleines Wunder in dunklen Zeiten. Moya Simons schenkt uns sehr viel. Fahrt ihr mit nach Sydney?

Die Lehren eines Lebens....
Die Lehren eines Lebens….

Seit Jahren trage ich die Weisheiten eines Leselebens für meine Tochter in ein Notizbuch ein, dessen Existenz ein großes Geheimnis ist. Die Einträge handeln von Schicksalen junger Mädchen in Zeiten des Holocaust. Sie handeln von letzten Zeilen in Tagebüchern im KZ im Vergleich zum Freundebuch von heute. Sie handeln vom Tod, weil man sich nicht von einer Puppe trennen wollte und der endlosen Suche nach einem Plüschlöwen in der heutigen Zeit.

Sie handeln vom Glauben eines Vaters, dem man in Polen sagte, die Kinder würden evakuiert und in Sicherheit gebracht – nur um später an einem Massengrab dem Grauen ins Gesicht zu schauen. Sie handeln von mir, der sich geschworen hat, niemals und unter keinen Umständen – bis hin zur Selbstaufgabe – eine solche Trennung zuzulassen.

BEDENKE – NIEMALS TRENNEN – NIEMALS TRENNEN.

In dicken Buchstaben habe ich dieses Mantra in das kleine Buch geschrieben, das ich ihr schenke, wenn sie 18 wird.

Moya Simons bringt mich nicht von diesem Weg ab. Nichts kann das. Erschüttert habe ich das Buch gelesen – mit Kloß im Hals und eiserner Klammer ums Herz. Es hat Spuren hinterlassen und auch den wichtigen Samen der Hoffnung gesät. Und genau diese Hoffnung, die differenzierte Betrachtung der Menschen in jener Zeit und die emotionale unschuldige Erzählperspektive der kleinen Rachel machen dieses Buch für mich zu einem Herzensbuch.

Glaubt an das Glück – aber verdammt nochmal kämpft auch darum!

Unsere Serie "Gegen das Vergessen" - mit einem Klick zum Verzeichnis
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0 comments on „Ein Flüstern in der Nacht“ von Moya Simons

  1. Grossartig!
    Aufgrund Eurer Rezension gekauft und in 2 Tagen durchgelesen. Ja, die Lehren aus diesem Lesestoff sind klar zu erkennen und werden doch allzu haeufig gerade heute wieder vergessen! Erinnern wir uns ans Wesentliche – Menschlichkeit!!
    Liebe Gruesse
    Peggy

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