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Am 07. Februar 1812 erblickte ein Kind das Licht der Welt, das als Erwachsener diesem Licht eine eigene Farbe verleihen sollte. Charles Dickens, die große sozialkritische Erzählstimme Englands im 19. Jahrhundert wäre heute 200 Jahre alt geworden. Literatwo hat sich dem großen Klassiker bereits in einem Special angenähert und dabei den „Vater Charles Dickens“ aus der Sicht seiner Kinder kennengelernt.

Leidenschaftlich beschrieb er die Schicksale von Waisenkindern in Zeiten des industriellen Wandels im viktorianischen England, leidenschaftlich inszenierte er sein eigenes Leben und mit aller Empathie trat er schreibend für die Rechte der Benachteiligten ein. England hat ihm dies nie vergessen.

Charles Dickens` Romane brillieren im situativen Kontext, der tiefen Schnörkellosigkeit der Dialoge sowie in der Konturierung seiner Protagonisten. Erzähltechnik und Konstruktion faszinierten Leser aus allen sozialen Schichten. Seine Stimme hatte Wucht im alten England.

Charles Dickens erlebt in unseren Tagen eine wahre Renaissance. Seine Werke werden in neuen Übersetzungen und wertvollen Ausgaben neu aufgelegt und – welch Wunder – sie werden gekauft und gelesen. Betrachten wir die Gründe für die Zeitlosigkeit seiner Erzählungen am Beispiel seines wohl dichtesten Romans Große Erwartungen aus dem Jahr 1860.

„Meines Vaters Name lautet Pirrip, mein Vorname Philip,
und aus beiden Namen vermochte meine kindliche Zunge
nichts Längeres und Verständlicheres zu bilden als Pip.
So kam es, dass ich mich Pip nannte und Pip genannt wurde.“

Pip wächst unter den ungünstigsten, für die Mitte des 19. Jahrhunderts allerdings nicht untypischen Bedingungen auf. Waisenkind, arm, dem Gutdünken seiner großen Schwester und einer kinderfeindlichen Umwelt ausgeliefert. Einzig Joe, sein Schwager, nimmt ihn vor allen Unbillen in Schutz und ermöglicht ihm eine Lehre in der eigenen Schmiede. Ein Glückstreffer im eigentlichen Sinne – die Schmiede wird zum Sinnbild des Formens der eigenen Zukunft. Nicht der schlechteste Weg für einen mittellosen Jungen.

Wäre da nicht eine Verlockung, die Pip so unvermittelt trifft, wie eine Chance vom anderen Stern.

Ein Londoner Anwalt eröffnet ihm, dass „Jemand“ große Erwartungen in ihn setzt und ihn mit entsprechenden finanziellen Mitteln ausstatten möchte, um aus dem armen Jungen einen richtigen englischen Gentleman zu machen. Pip zieht nach London und lernt eine gänzlich andere Welt kennen.

Als Wohltäter kann eigentlich nur jene reiche Dame aus seinem Heimatort in Frage kommen, zu deren Zerstreuung er als Kind oftmals herhalten musste. Miss Havisham, traumatisiert von einer nie zustande gekommenen Ehe, lebt in ihrer eigenen morbiden Welt aus vergangenen Wünschen und Hoffnungen. Sie formt aus ihrer bildhübschen Tochter Estella einen weiblichen Racheengel am männlichen Geschlecht. Pip verliebt sich in das bildhübsche Mädchen und wird zur Zielscheibe der jungen aufstrebenden Frau. Doch vielleicht hat er ja bessere Chancen, wenn ….

Aber die neuen Lebensumstände ändern nichts. Estella bleibt sein unglückseliger Fixstern – unnahbar und herzlos ihm gegenüber. Der Aufstieg Pips vollzieht sich rasch. Kleidung und Habitius entsprechen bald einem Gentleman und mit der äußerlichen Veränderung verändert sich der Mensch. Der Aufstieg in eine andere Gesellschaftsschicht lässt Pip seine Herkunft vergessen und in einem der dunkelsten Momente seines Lebens verleugnet er seinen besten Freund, den liebevollen Schmied Joe.

Erst als sich herausstellt, wer in Wahrheit der Wohltäter des jungen Pip ist, gerät alles ins Wanken. Das Leben, die Liebe und der eigene Weg – nichts ist selbstbestimmt und am Ende aller Tage besteht für Pip die Gefahr, einen manipulierten Weg gelebt zu haben. Instrumentalisiert…

Aktueller kann in der heutigen Zeit ein Romanstoff nicht sein. Der Wunsch nach einer Chance aus dem Nichts stellt immer noch eine der größten Verlockungen dar und die persönliche Veränderung bei Menschen, die eine solche Chance erhalten ist absolut zeitlos. Wir wären alle gerne ein wenig Pip – wir würden morgens gerne erwachen und so gerne feststellen, dass sich die Lebensuhr neu aufgezogen hat und sich alle Vorzeichen geändert haben. Pip repräsentiert unseren Traum vom Glück.

Die tiefe Botschaft von Charles Dickens ist die Antwort auf eine Charakterfrage – ein zeitloser Appell an die Jugend der Welt. Nicht blind zugreifen, wenn sich ein Strohhalm aus dem eigenen Schicksal bietet. Nicht vergessen, woher man stammt und nicht an unerfüllter Liebe zugrunde gehen, auch wenn dieser Teil des Appells wohl der Schwierigste sein dürfte.

Der Hanser Verlag hat mit „Große Erwartungen“ einen Prachtband in neuem Kleid und in neuer Übersetzung inklusive des alternativen Endes des Autors veröffentlicht. Ein wertvolles Buch im Vollsinn des Wortes, dessen Wert man nicht in Euro beziffern kann – wohl aber im Inhalt.

Große Erwartungen“ sollte gelesen werden, sollte vererbt werden, sollte als Botschaft überleben. Dies gelingt mit dieser Ausgabe exemplarisch.

Mr. Pip sollte Wegbegleiter sein und kann als Leitmotiv Lebenswege entscheiden. Dickens hat eine Spur gelegt, die durch alle Epochen trägt. „Große Erwartungen“ wird gerade mit großem Aufwand verfilmt. Hier darf man auf die Adaption und die Signalwirkung auf die heutige Zeit gespannt sein. Der Protagonist lebt sogar in der Literatur weiter, wie wir vor wenigen Tagen im Roman von Lloyd Jones Mister Pip erleben durften.

Doch dies ist ein ganz eigenständiger ArtikelCharles Dickens lebt. Auch 200 Jahre nach seiner Geburt. Es ist keine Renaissance im eigentlichen Sinne… seine Stimme ist nie verstummt und die fortlaufende Zeit hat der Aktualität seiner Erzählungen nicht den Hauch ihrer Brisanz genommen.

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