Sagt Delphine de Vigan die Wahrheit?
Sagt Delphine de Vigan die Wahrheit?

Liebe Delphine de Vigan,

vor mehreren Jahren habe ich zwei Bücher von dir gelesen. Ich habe meine Erinnerungen an die zwei Bücher in Artikel verpackt und ihnen den Namen Nebenwirkungen des Lebens und Sackgasse gegeben. Zwei Bücher die mir nahrhafte Lesestunden gegeben haben.

Heute ist der Tag der Wahrheit, an dem dein neuer Roman das Licht im deutschen Buchhandel erblickt. Viele treue Leser warten schon lange auf diesen Tag. Endlich. Ein neuer Vigan-Roman. Ich durfte schon vor ein paar Tagen in dem Buch mit dem zweifarbigen Cover lesen. Vorn ist es rot, hinten ist es weiß. Das Seitenprofil einer jungen Frau zieht sich um den Schutzeinband. Nimmt man ihn ab, ist die junge Frau weg. Als ob sie nie da war. Der feste Bucheinband ist weiß. Schon die Gestaltung lässt erahnen, was uns erwartet.

Wirst du im Buch zu finden sein, liebe Delphine? Schreibst du die pure Wahrheit oder werden wir uns in einem Strudel der Fiktion wiederfinden?

Nimm es mir nicht übel, dass ich dich mit Du anspreche, aber nach den 348 Seiten bist du mir so vertraut und nach „Das Lächeln meiner Mutter“ noch viel vertrauter. Auch auf die gerade gestellten Fragen brauche ich keine Antwort mehr. Aber mal in Ruhe und von vorn und vor allem ganz ohne Spoiler, denn der Brief ist öffentlich und die Leser sollen wissen, dass sie hier lediglich eine intensive Lesempfehlung erhalten.

Ist die Wahrheit rot, weiß oder transparent?
Ist die Wahrheit rot, weiß oder transparent?

Über dein Buch schreiben und zwar so, dass nichts verraten wird. Eine kleine Herausforderung an alle Leser, die es weiter empfehlen wollen. Gemeinsam mit Arndt habe ich es gelesen, auch er hat Worte zu deinem Buch gefunden, wir haben uns ausgetauscht und während der Lesezeit bist du mit deinem Bestseller aus Frankreich „Das Lächeln meiner Mutter“ bei uns eingezogen. Während ich die Zeilen an dich schreibe, habe ich nicht nur „Nach einer wahren Geschichte im Kopf“, sondern immer und immer wieder das Lächeln. Beide Bücher gehören unzertrennbar zusammen und haben mir eine intensive Lesezeit beschert, die ich nicht missen möchte.

Rot – weiß – transparent

Dein rot-weißer Roman mit der jungen Frau darauf, liegt gerade rechts neben mir. Zahlreiche bunte Post-its halten Zitate fest und wichtige Wegweiser durch die Geschichte. Die wahre Geschichte. Die unwahre Geschichte. Durch deine Geschichte. Nach einer wahren Geschichte.

Alles beginnt damit, das sich dein Leben drehte, nachdem du dein letztes Buch veröffentlicht hast. Du hörtest auf zu schreiben. Drei Jahre lang. Delphine de Vigan – Autorin – hörte auf zu schreiben. Die Schreibunfähigkeit ist wohl das schlimmste im Leben als Autor. Eine nicht seltene Krankheit. Eine Krankheit die besiegt werden kann. Besiegt werden muss.

„Der Erfolg eines Buchs ist ein Unfall, aus dem man nicht unversehrt hervorgeht, aber es wäre unverschämt, darüber zu klagen.“ (Seite 30)

Drei Teile hat der Roman, drei Teile in denen du aus Stephen Kings „Sie“ zitierst. Selten lese ich Zitate vor neuen Abschnitten. Keine Ahnung warum. Doch diese Zitate gehören dazu, als ob King wusste, dass du sie brauchen wirst.

Spuren im Sand
Spuren im Sand

Und dann beginnt alles auf Seite 11. Die ersten Worte von dir lassen erahnen, was in dir vorgegangen sein muss, als du die ersten Zeilen über L. verfasstest. Die besagte L. die dein Leben erschütterte. Durcheinander brachte. Die dich herunter drückte. Die dich hoch zog. Die dein Leben in einen neuen Takt setzte.

Ein neues Buch erfordert Konzentration und jede Menge Kraft. Viel Kraft hast du auf der Buchmesse investiert und signiert und signiert, aber nicht bis zum Schluss. Ein erster Riss? Die Unordnung kam mit L. Du beschreibst, wie du sie auf einer Party getroffen hast. Du versuchst alle Einzelheiten zu erwähnen, um dir selbst vor Augen zu führen, was die Zeit mit L. in dir angerichtet hat. Was L. aus dir gemacht hat.

L.

Du erzählst aber nicht nur, dass L. schlecht zu dir war. L. war an deiner Seite. Sie hörte dir zu. Sie versuchte dich oft zu treffen. Sie lieh dir ihr Ohr und gab dir nicht nur dann Antworten, wenn sie gefragt wurde. Ihr beredetet fast alles. Über die Familie, über die Vergangenheit. Ihr hattet so wahnsinnig viele Schnittpunkte, wie zwei Seelen. Es ist ein schönes Gefühl, einen Menschen zu finden, mit dem man teilen kann, der einem immer hilft, eine Stütze ist.

L. ist Ghostwriter. Du bist eine Autorin im Stadium der Schreibunfähigkeit. L. kam zu dir in einem Moment, der nicht hätte passender sein können. Während du nicht schreiben konntest, setzte sie sich für dich ein und schrieb. Nicht nur Emails. L. wusste einfach Bescheid. Sie hat viel von dir erfahren und konnte so reagieren, dass es authentisch wirkt. L. wurde dir immer ähnlicher. Wie fühlt sich sowas an, Delphine?

Schreib!
Schreib die Wahrheit!

Du erlebtest mit L. eine wahnsinnig facettenreiche Zeit. Die Zeit tat weh, die Zeit tat gut und die Zeit veränderte durch und durch. Es war eine lange Zeit, die du mit L. verbrachtest. Du wolltest wieder schreiben und du vertrautest dich wieder L. an. Als du ihr allerdings sagtest, dass du kein Buch schreiben wirst, was auf der Wahrheit basiert, ist L. nicht sprachlos, sondern entsetzt. Sie schrieb dir: „…Kämpfe nicht den falschen Kampf, Delphine, mehr will ich ja gar nicht sagen. Die Leser wollen wissen, was man in sein Buch hineingibt, und sie haben recht. … Deine Bücher dürfen nie aufhören, deine Erinnerungen, deine Überzeugungen, dein Misstrauen, deine Angst, deine Beziehungen zu den Menschen ringsum zu befragen. Nur unter diesen einzigen Bedingung werden sie ins Schwarze treffen und ein Echo finden.“ (Seite 136/137)  Und dann hast du geschrieben…

Wahrheit oder Fiktion?

Liebe Delphine de Vigan,

du hast mich mit deinem Werk aus einer kleinen Leseflaute befreit. Du konntest nicht schreiben, ich konnte nicht lesen. Vielleicht bin ich eine Art L. Du hast mich mit deinen Worten auf jeden Fall tief erreicht und regelrecht getrieben. Die Emotionen schwappten über und ich wusste stellenweise nicht mehr, ob ich weiter auf deine Seite bleiben sollte oder doch für gut befinde, was L. getrieben hat. Damit meine ich, dass du mir wahnsinnig leid getan hast. Gleich zu Beginn habe ich gemerkt, wie ich Hass gegenüber L. empfinde und wie er sich steigert. Hass kann kippen – das habe ich in deinem Buch gelernt. Hass kann umschlagen. Ich habe auch gemerkt, dass ich dich bemitleidet habe. Stellenweise haben mich die Worte, die du über L. geschrieben hast bedrückt und ihre Worte taten das gleiche.

Ich habe die Worte und ganz bestimmte Stellen mitgenommen, in mein Leben. Ich habe diese reflektiert und wie du richtig sagst: „…wobei das Buch den Leser fast immer – und aus einem Grund, den ich nicht erklären kann – auf seine eigene Geschichte zurückverwies. Das Buch war eine Art Spiegel…“ (Seite 14/15)

Meine eigene Geschichte habe ich mit zu dir und L. gebracht. Und nun? Hast du die Wahrheit gesagt oder hast du auf die Fiktion zurück gegriffen?

Das Lächeln der Wahrheit
Das Lächeln der Wahrheit

Für mich hast du mit diesem Roman tiefgründige Literatur auf den Buchmarkt gebracht, die besser kaum sein könnte. Dein Buch ragt nicht nur zwischen deinen eigenen Werken hervor, wie der Buskam in Nähe des Göhrener Strands. Du spielst nicht nur mit der Wahrheit und der Fiktion, du spielst mit dir und der Literatur und du vereinst in diesem Spiel allerhand Kunstgriffe. Sagenhaft!

Kunstgriff

Ich danke dir für dieses Buch. Du hast damit eine kleine Welle ausgelöst, denn ich habe anschließend herausfinden wollen, warum du die Drohbriefe bekommen hast. Warum gab es negative Stimmen zu deinem Buch über deine Mutter. Dabei fand ich heraus, dass ich in verkehrter Reihenfolge gelesen habe. Ich hätte so lesen sollen, wie du geschrieben hast. Dennoch ist es wahrlich nicht schlimm Nach einer wahren Geschichte zuerst begonnen zu haben, aber es ist wahrlich schöner, zuerst in Das Lächeln meiner Mutter zu tauchen. Umso intensiver wirkt dein neuster Roman. Als Autorin hast du kaum Gelegenheit deine Leser darin zu beeinflussen, zu welchem Buch sie zuerst greifen. Deswegen nehme ich mir hier die absolute Bloggerfreiheit und empfehle zuerst das Lächeln vor der wahren Geschichte.

Diese zwei Bücher gehören untrennbar zusammen und bilden eine Einheit die Leserherzen höher schlagen lässt.

Schreib, Delphine! Deine Leserin.*

Eure
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6 Comments on Ist das die Wahrheit, Delphine de Vigan?

  1. So habe ich mir deinen Brief an Delphine vorgestellt. Am Ende des Lesens wächst die gefühlte Verbundenheit und der Wunsch, der Autorin selbstlos zu helfen wird dominant.

    Es war ein wahres Vergnügen, dieses Buch mit dir zu erlesen. Auch, wenn es wieder viel mehr Bücher wurden, als wir eigentlich geplant hatten.

    • Weißt du, genau das ist es doch, was uns immer passiert und es wäre doch merkwürdig, wenn es weniger Bücher werden würden. Lach.

      Ich freue mich schon aufs nächste Lesen mit dir. Danke für die Worte zu meinem Brief.
      Es war mir ebenfalls ein Vergnügen mit dickem Lächeln.

  2. Gerade festgestellt, dass u.a. DU Schuld bist wenn meine WL wächst und wächst und ich zum Leidwesen meines Mannes immer neue Bücher bei mir einziehen lasse…danke für deine anermals bezaubernde Rezension…ich kenne bisher nur das Buch No und ich und das zählt zu meinen Lieblingen…
    Liebste Grüße Micha

    • Liebe Micha,

      ich bin ja nicht gern SCHULD, aber doch – bei manchen Dingen schon, vor allem bei Büchern. Hier solltest du jedenfalls schnell handeln, aber warte noch den nächsten Vigan-Artikel ab. Das Lächeln meiner Mutter und nach einer wahren Geschichte – sind einfach wahnsinnig gut – Literatur die kein Leser verpassen darf.

      Der Mann muss da durch – so geht es meinem doch auch – lach.
      No & ich – grandios.

      Lesegrüße – Bini

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