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„Noah Barleywater runs away“, der Originaltitel des neuesten Werkes von John Boyne, dem Autor des Weltbestsellers „Der Junge im gestreiften Pyjama“, trifft den Kern der märchenhaft anmutenden Parabel mit dem deutschen Verlagstitel „Der Junge mit dem Herz aus Holz“ mehr als auf den Punkt.

Noah Barleywater läuft weg…. Er kann nicht mehr… er mag nicht mehr… er hat Angst, zu lange zu warten. Er hält es zuhause einfach nicht mehr aus. Zu übermächtig ist die Furcht davor, der Erkrankung seiner geliebten Mutter ins Auge zu schauen – zu übermächtig ist der Wunsch, einfach zu fliehen – zu gewaltig ist die Verlustangst, die Noah schlaf- und hoffnungslos werden lässt.

Noah läuft weg. Viel zu jung für eine solche Flucht, viel zu schwer beladen mit tonnenschweren Gefühlen, aber mit jedem Meter, den er sich von seinen Eltern entfernt, mit jedem Zentimeter wachsender Distanz beginnt er klarer zu sehen. Der Albtraum zerfließt im aufziehenden Nebel der selbst gewählten Blindheit.

Noah Barleywater läuft weg.

John Boyne macht uns fortan zum Fluchtbegleiter des achtjährigen Jungen. Wir folgen atemlos dem Weg, der immer märchenhafter zu werden scheint und an mancher Abzweigung sind wir versucht, Noah zu warnen, ihn aufzuhalten – aber das ist uns nicht möglich. Zu aufregend sind die kleinen Geschichten, die er in den Dörfern erlebt, die am Wegesrand auf ihn zu warten scheinen und zu magisch ist seine Begegnung mit einem scheinbar lebenden Baum. Das vorläufige Ziel seiner Reise liegt unmittelbar neben jenem Baum, der seine Äste hinter seinem Stamm versteckt, wenn man sich ihm nähert.

Ein Spielzeugladen der besonderen Art lässt Noahs Augen größer werden und fasziniert von einer bunten Welt aus Holz betritt er das Reich des betagten Holzschnitzers…. Lange schon scheint kein Kunde mehr nach den nostalgisch anmutenden Marionetten, Figuren, Spielen und Formen gefragt zu haben. Einsam und in sich gekehrt wirkt der alte Mann, als habe er nur auf Noahs Ankunft gewartet. Als hätte er ihn kommen sehen… als hätte er ihn geahnt.

Ach, wie hat sich dieses Geschäft in meinem Herzen verankert. Leblosem Holz eine neue, bleibende Form zu geben erweckt das Herz jeden Lesers und man fühlt, mit welchem Maß an Liebe der alte Spielzeugmacher zu Werke geht. Ich konnte den Holzleim und die Farben plötzlich riechen, habe den Geschmack von Sägespänen im Mund verspürt und mich herzlich über die skurrilen Gegenstände amüsiert, denen ich in die Arme lief.

Jenen murrenden Wecker, der nur leicht angesäuert dazu bereit war, seine Aufgabe zu erfüllen.
Die vergessliche Türglocke, die in ihren tiefen Erinnerungen kramen musste um dann doch wesentlich zu spät den Besuch eines Kunden zu signalisieren.
Diese einzige Türe im Haus, die an einem vorbeihuscht, wenn man sich auf die Treppe zum Obergeschoss begab. Man musste sie an sich vorbei lassen, damit sie sich rechtzeitig oben befand, um sich zu öffnen.
Die schlecht gelaunte Kuckucksuhr, an deren widerwilligen Klang man ihre Stimmung besser ablesen konnte, als die Zeit.
Und schließlich die Fußbodendielen in der Küche, die durch rasende Bewegungen versuchten, das Fehlen ihrer im Feuer bereits verloderten Gefährten zu ersetzen.

Ach wie warm und wohl war mir ums Herz, als ich mit Noah Barleywater beim alten Holzschnitzer zu Gast war. Und genau dieser magischen Atmosphäre bedurfte es, um Noahs Zunge zu lösen, um die Belastung abfallen zu lassen und seine Geschichte zu erzählen. Im Gegenzug für die Geschichten des alten Mannes, die für den Jungen zu einem Blick in den auf Hochglanz polierten Spiegel des eigenen Lebens werden. Ein Blick zur rechten Zeit – an jener Kreuzung, die ein Umkehren unmöglich macht, wenn man sich einmal für einen Weg entschieden hat.

Mehr darf nicht verraten werden – mehr kann nicht verraten werden – und wer mehr verrät, der beraubt den Leser um eine der sensationellsten Begegnungen der Literaturgeschichte. Jeder lesende, lebende, erzählende, hörende und singende Mensch – jeder, der jemals seinen Kopf der Fantasie der Literatur überlassen hat, wird zu einem individuellen Zeitpunkt in diesem großen Roman das Gefühl bekommen, jemanden sehr gut zu kennen.

Dieses Gefühl wächst mit der Spannung der Geschichten – dieses Gefühl gipfelt in einem Moment des Erkennens und dieser Moment gehört dann dem Leser selbst. Es ist das größte Geschenk der Fantasie, das ich von John Boyne erhalten habe. Dieses Erkennen werde ich niemals vergessen und ich werde niemanden um sein Gefühl betrügen…. Deshalb sei hier nichts weiter verraten.

Nur soviel, dass ihr lesen müsst. Lesen müsst … ansonsten entgeht euch ein großer Moment der Literatur.

Wir werden John Boyne auf der Buchmesse in Leipzig zu einem Interview treffen und freuen uns bereits jetzt schon sehr darauf, diesem kreativen Genie einige Fragen stellen zu können.

Ganz besonders hervorheben muss man das weite Feld seiner Schaffenskraft, legt er doch gleichzeitig zum All-Age-Märchen Der Junge mit dem Herz aus Holz den Erwachsenenroman Das späte Geständnis des Tristan Sadler vor.

Das Weltkriegsrama erzählt die Geschichte des 1919 traumatisiert aus dem Grabenkampf in Nordfrankreich zurückkehrenden jungen Soldaten Tristan Sadler. Er reist nach Norwich, um dort die Schwester seines toten Kameraden Will zu treffen. Ein Bündel Briefe trägt er mit sich, aber dies ist nicht die einzige Last, die er zu schultern hat. In seinen Erinnerungen begleiten ihn die Gräuel des Zermürbungsskrieges, die gemeinsamen Erlebnisse an der Front, das menschenunwürdige Dahinsiechen junger Männer, Gefühle der Zuneigung und des Vertrauens – aber auch das unaussprechliche Geheimnis um die wahre Todesursache seines Freundes.

Ein Roman, der nichts beschönigt und in seiner Sogwirkung den Leser immer tiefer in sich aufnimmt, obwohl er ab einem bestimmten Punkt nicht mehr weiß, ob er die ganze Wahrheit des Tristan Sadler überhaupt ertragen kann. Ein großes Buch… Ein Drama in Reinform…

Zwei druckfrische Neuerscheinungen auf der Buchmesse zu präsentieren, zwei so unterschiedliche Genres in dieser Qualität mit seinem Namen zu belegen – das ist ganz großes Kino….

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