Lieber Mr. Salinger ~ Joanna Rakoff
Lieber Mr. Salinger ~ Joanna Rakoff

Lieber Mr. Salinger – Joanna Rakoff

„Salinger war knallhart. Knallhart, witzig und sehr genau. Ich war Feuer und Flamme für ihn und für alles, was er geschrieben hatte.“ (S. 234)

Joanna Rakoff beschreibt in ihrem autobiographisch angehauchten Roman ein Jahr ihres Lebens. Und nicht irgendein Jahr, sondern das Jahr, in dem sie als Assistentin in der Agentur in New York gearbeitet hat, die den großen Autor J.D. Salinger vertrat.

Kurz nach ihrem Uniabschluss ergattert die junge Joanna mehr durch Zufall diesen Job. Frisch getrennt von ihrem Collegefreund, in einer neuen Beziehung zu einem angehenden Schriftsteller und mit einer großen Portion Naivität stellt sie sich dieser neuen Herausforderung. Doch mit einer Chefin ala Anna Wintour gestaltet sich der Start etwas schwierig. Jeden Morgen rauscht sie an ihrem Arbeitsplatz ohne Begrüßung vorbei und überhäuft sie anschließend mit auf Kassette aufgenommenen Texten, die über ein Diktafon abzuspielen und auf Schreibmaschine abzutippen sind. Ja, die Agentur hat etwas Besonderes, etwas Nostalgisches. Im Laufe der Zeit wird zwar ein Computer angeschafft, doch nur einer und ausschließlich für Recherchezwecke.

Lieber Mr. Salinger ~ Joanna Rakoff
Lieber Mr. Salinger ~ Joanna Rakoff

Joanna stolpert durch ihre ersten Tage und Wochen. Zwar liest sie viel, doch der nebulöse Name „Jerry“, der über allem schwebt, mit dem sie niemals sprechen darf, seine Anrufe sofort durchstellen muss, bleibt ihr lange Zeit ein Rätsel. Bis es eines Tages „klick“ macht, als sie sich die Bücher in der Agentur etwas genauer ansieht.

„Es waren Bücher, die in jedem Regal so selbstverständlich ihren Platz hatten, dass sie mir kaum aufgefallen waren: Der Fänger im Roggen, Franny und Zooey, Neun Erzählungen. Salinger. Die Agentur vertrat J.D. Salinger. Ich stand vor meinem Schreibtisch, als der Groschen fiel. Oh, dachte ich, dieser Jerry also.“ (S. 43)

Bald darauf wird sie mit einem weiteren Aufgabenfeld vertraut gemacht, Jerry Fanpost. Täglich trudeln Briefe von Fans aus aller Welt ein. Joannas Aufgabe: lesen und mit einem standardisierten Brief antworten. Doch dies fällt ihr zunehmend schwer, sind doch die Briefe oftmals Ausdruck tiefen Schmerzes, traumatische Kriegserlebnisse werden aufgearbeitet, Verluste besprochen. Und immer wieder beschreiben die Absender ihre tiefe Nähe zu Holden Caulfield, dem Protagonisten aus „Der Fänger im Roggen“, ihre Seelenverwandtschaft zu dieser Figur, die ihr eigenes Leben, ihre eigene Sichtweise so sehr verändert hat. Joanna selbst hat noch nichts von Salinger gelesen, lernt ihn nur aus den zutiefst emotionalen Briefen seiner Leser kennen, bis es zu einem bedeutsamen Anruf kommt.

Lieber Mr. Salinger ~ Joanna Rakoff
Lieber Mr. Salinger ~ Joanna Rakoff

Viel Zeit zum privaten Lesen bleibt ihr auch nicht, denn mehr und mehr erarbeitet sie sich eine Position in der Agentur, darf Manuskripte lesen und Meinungen zu Texten formulieren. Beruflich geht alles bergauf, doch im privaten Bereich breitet sich mehr und mehr ein Chaos aus. Don, ihr neuer Schriftstellerfreund, erfüllt das Klischee eines abgehobenen, arroganten, unnahbaren Künstlers in Gänze. Doch warum bleibt sie bei ihm?

Mit „Lieber Mr. Salinger (Knaus) ist Joanna Rakoff ein einfühlsamer, unterhaltsamer, witziger Roman gelungen. Ihr gelingt der erzählerische Spagat, neben dem Agenturleben auch das private Leben der Roman-Joanna ebenbürtig umzusetzen. Beide Erzählstränge lesen sich gleichermaßen spannend und flüssig.

Man wandert an Joannas Seite ein Jahr durch das New York der 90er Jahr, geht auf Künstlerpartys, lebt in Bruchbuden, hat gerade mal genug Geld für ein Sandwich und verschreibt sich ganz der Literatur.

Dieses Jahr an Joannas Seite verspricht aufregende literarische Erlebnisse, wichtige emotionale Entscheidungen und vor allem viele Details von und berauschende Leseerfahrungen durch den großen J.D. Salinger.

Lieber Mr. Salinger ~ Joanna Rakoff
Lieber Mr. Salinger ~ Joanna Rakoff

„Haben Sie Salinger gelesen? Wahrscheinlich schon. Können Sie sich daran erinnern, wie es war, als Sie Holden Caulfield zum ersten Mal begegnet sind? Wie es ihnen den Atem verschlug, als Sie erkannten, dass dies ein Roman war, eine Stimme, eine Persönlichkeit, eine Art, Geschichten zu erzählen, und ein Blick auf die Welt, wie er Ihnen bis dahin noch nie begegnet war?“ (S. 237)

Euer Lesebienchen

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