Ein Leserleben – erlesen eben…

Diese Frage stelle ich mir in vielen Bereichen unserer Gesellschaft. Medien sind in der Lage die literarischen Talente dieses Landes in den Himmel zu heben und sie genau so schnell wieder im bodenlosen Fall in die Versenkung zu verstoßen. Erst nach dem Tod des jeweils nach medialem Bedarf hochgelobten tiefgestürzten, mit vernichtenden Zeilen geschlagenen (Schlagzeile wohl deshalb) „Begabten“ wird das Gejammer groß und die feuilletonistischen Abgesänge überholen sich unmittelbar nach der Zielgeraden eines bedeutenden Lebens.

Muss Günter Grass erst sterben? Muss er unter der Erde liegen, um die Wertschätzung zu erfahren, die der wohl größte deutsche Schriftsteller unserer Zeit mehr als verdient? Was hebt dann das Geschrei an vom Verlust „unseres“ Nobelpreisträgers, vom Fehlen des letzten und größten zeitgenössischen Gesellschaftskritikers und vom Verstummen der gewaltigsten literarischen Stimme einer Generation. Kritiker gäben sich die Klinke in die Hand beim schluchzenden Eintrag in das Kondolenzbuch einer frisch geborenen, obschon gerade erst verstorbenen Legende.“Deutschland ein Jammertal – die Blechtrommel hat ihren letzten Schlag getan“ – so oder so ähnlich würden die Schlagzeilen des BILDungsbürgertumblättchens lauten.

Lebendig ist er – und mehr als das. Schreibwütig, nicht tot zu kriegen und viel lauter als jemand der bald zu verstummen droht. Grass lebt!

Und ich schätze mich glücklich, Leser in einer Zeit zu sein, die durch seine Bücher und sein Leben geprägt ist!

Aber da er lebt, kann man ihn bei jedem neuen Buch wie die literarische Sau durchs buchige Dorf treiben – auf ihn einschlagen, seine Sätze als „durchaus bemüht“ oder „nicht ungeschickt“ bezeichnen. Kritikersätze die jedoch selbst jeglicher grammatikalischer Konstruktion entbehren, diese gar der ach so teuren Spaltenzahl opfern, um einzuschlagen – draufzuhämmern und zu poltern auf der so oft gezwiebelten und gehäuteten Blechtrommel der deutschen Kultur!

Grimms Wörter – Eine Liebeserklärung

Und nun hat die Trommel mit „Grimms Wörter“ (Steidel Verlag) zu neuem Wirbel angesetzt.

Sie rief mich rhythmisch in die nächstgelegene Buchhandlung und zog mich zum neuesten Werk meines (und das gestehe ich unumwunden) Lieblingsautors. Der Klang des Grass`schen Schlagzeuges ist nicht modern – er erinnert mich eher an das 19. Jahrhundert, als die Trommelstöcke zu Revolution und Krieg in Europa riefen. Die Trommeln führen mich zu den Gebrüdern Grimm und dem Untertitel des Buches zufolge handelt es sich um eine Liebeserklärung.

Was nur hat Grass bei den Märchenonkeln verloren – was treibt ihn zurück – oder besser – was hat er mit mir vor? Ich war gespannt.

Das mit den Onkeln nehme ich natürlich sofort wieder zurück. Nicht nur Märchen wurden von den ungleichen Brüdern gesammelt, auch das 1837 begonnene Deutsches Wörterbuch hatten sie sich auf die Fahne geschrieben, um aus dem Flickenteppich der kleindeutschen Staaten ein einiges Vaterland, zumindest sprachlich voranzutreiben. An dieser Aufgabe war Jacob Grimm 1848 in der Frankfurter Nationalversammlung, wie so viele andere engagierte Deutsche gescheitert.

Günter Grass - Mehr als ein Wörterbuch
Günter Grass – Mehr als ein Wörterbuch

Die Grimms unpolitisch in Erinnerung zu behalten wäre fatal, verloren sie wegen anhaltender Kritik an den Regierenden ihre Lehrstühle an der Göttinger Universität und zumindest Jacob wurde ausgewiesen – verbannt ins ferne Hessen. Um die erzwungene schöpferische Leere auszufüllen wurde ihnen das Mammutprojekt des Deutschen Wörterbuchs angeboten. Nach anfänglichem Zögern sagten sie zu und versuchten ein schier unmögliches Unterfangen beharrlich zu realisieren, um die Gegenwartssprache (seit Luther recht verkümmert) zu erneuern.

Einerseits sollte eine organische deutsche Sprachgeschichte, andererseits ein Hausbuch entstehen, das jeder Deutsche regelmäßig zur Hand nehmen sollte, um seine Sprache aufzufrischen. Der Versuch musste scheitern… Alleine der Umfang von mehr als 331 000 Wörtern mit über einer Million Belegen (Zitaten die den Ursprung des Wortes in der deutschen Sprache von Luther bis Goethe nachwiesen) auf 34 000 Seiten war in einem Menschenleben nicht zu schultern. Und veraltet war das Werk bereits beim Erscheinen des ersten Bandes.

Für die Schriftsteller der heutigen Zeit ist dieses Wörterbuch ein nationales Sprachmonument, eine Fundstelle und Quelle der ureigensten Sprachkultur und Günter Grass hat seine 32 Bände immer wieder erwähnt in seinen Werken. Nun legt er mit der Liebeserklärung mehr als eine Hommage an die Gebrüder Grimm vor. Er führt die Arbeit fort – er trägt zusammen, was in die heutige Zeit gehört, er ergänzt, schlägt Brücken von Arbeyth zur Agentur für Arbeit und Arbeitslosigkeit, von Einheit zu Einheitsbrei, von Jakob, der sein Weib erkannte bis zum Erkennungsdienst im geteilten Deutschland. Er wird zur Wanderer zwischen den Zeiten und verknüpft sein Wortgefühl mit seiner eigenen Vita.

Muss man erst sterben in diesem Land?
Muss man erst sterben in diesem Land?

Und genau bei dieser Wanderung legt Günter Grass viele der Mäntel ab, mit denen er sich vormals vor der Kälte der Kritik zu schützen suchte – und er reflektiert seine Phasen des Vergessens und Verdrängens einer Vergangenheit im nationalsozialistischen Deutschland. Wer diese Selbstkritik finden will und kann, der wird einen erstaunlichen Nachlass finden. Bekenntnisse und Episoden die ein Schriftstellerleben prägten und noch prägen. Wer nicht finden möchte, dem kann hier nicht geholfen werden…

Beeindruckend sind seine Aussagen zur Deutschen Einheit und seine Verweigerung des Eides auf unsere Verfassung, da sie den Bürgern eines geeinten Volkes gegenüber wortbrüchig wurde. Und genau dabei gesteht er früher geleistete Eide und seinen falschen Umgang mit der Vergangenheit. Kritisch stellt er seine Bemühungen um die Einheit des Landes dar, als er ungehört mit der Idee einer Föderation mit gleichen Rechten am Rande der Geschichte stand.

Bedrückend ist es zu lesen, wie sich Günter Grass mit dem eigenen Alter auseinandersetzt. Bedrückend ist es, einen Teil Vermächtnis und letzten Wunsch zu finden. Mich fröstelt, wenn er über seinen Tod schreibt: “Noch fremdelt er, wird aber vertrauter mit jeder schlafarmen Nacht. Ich weiß: auf ihn ist Verlass.” Es macht mich nachdenklich zu lesen, dass er daran denkt, dass jedes Wort sein letztes sein könnte.

Für mich ist diese Liebeserklärung nicht die eines selbstverliebten alten Mannes an sich selbst (so sehen es viele Kritiker…), sondern ein behutsames, lautes, zartes, krakelendes, schreiendes und flüsterndes persönliches Reflektieren unserer Sprachwurzeln mit einem meisterlichen Brückenschlag in unsere Zeit.

Muss man erst sterben in diesem Land, um…. Muss man erst unter der Erde liegen…? Ich hoffe, diese Zeilen werden noch für lange Zeit in der Versenkung verschwinden, bevor sie von starren Kritikern leise mit Zustimmung versehen werden.

Was gesagt werden muss - Günter Grass
Was gesagt werden muss – Günter Grass

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