Schlagwort: Diogenes Verlag

Vincent ~ ein grausames Leben

Vincent
Vincent ~ Joey Goebel

Vincent…Sein Vater war unbekannt. Seine Mutter war eine Hure…Als er sieben war, verkaufte ihn seine Mutter an ein innovatives Unternehmen aus der Unterhaltungsbranche, dessen Ziel es war, mit ihm Geld zu verdienen. Fünfzehn Jahre lang wurde sein Leben nur deshalb manipuliert, weil einem äußerst ehrgeizigen Mann ein absurder Marketingplan einfiel, den sich andere ehrgeizige Männer als gute Idee aufschwatzen ließen. In diesen fünfzehn Jahren schuf Vincent Kunstwerke, die landesweit im Radio, im Fernsehen und im Kino präsentiert wurden. Diese Werke sollten den Geist Amerikas verbessern, was ihnen gelang… (Seite 415)

Es gibt Bücher, bei denen möchte ich euch einfach nur ein langes Zitat zeigen. So bei „Vincent“ (Diogenes Verlag) von Joey Goebel – trotz 431 Seiten, kann ich problemlos von Seite 415 zitieren, denn der Weg ist das Ziel und das richtige Ziel erfahrt ihr nur, wenn ihr euch Vincents Leben widmet. Schon Jahre schlummerte dieser Roman ungelesen in meinem Regal, jetzt wird er von mir hochbejubelt. Ein literarischer Schatz.

Durch Harlan Eifflers Augenzwielichtiger Schutzengel eines jungen Künstlers, fürsorglich-grausamer Eindringling, der sich zwischen dessen Gegenwart und Zukunft schob. (Seite 22) – lernen wir den hypersensiblen Vincent kennen. Einen kleinen Jungen, nichts von seiner Zukunft ahnend. Ein Brief zeigt ihm, was ihn erwarten wird. Vincent ist als Kind noch unbeschwert, wird psychisch in die Knie gezwungen, versucht aufzustehen, wird wieder heruntergedrückt, bleibt nach einigen weiteren Versuchen – unten. Er muss unten bleiben, denn er muss einsam sein, er muss traurig sein, er muss leiden, denn nur so wird er voller Inspiration sein und große Kunst schaffen. Vincent – ausgewählt um zu leiden und um mit seiner Kunst Amerika zu begeistern und seine Manager und deren Bosse reich zu machen…

Vincent
Vincent ~ Joey Goebel

Was uns nicht umbringt, bewirkt nur, daß wir sterben wollen. (Seite 135)

Ach Vincent! Joey Goebels Roman hat mich schwer beeindruckt, schwer leiden lassen und mich auch schwer nachdenken lassen. Ich wollte eigentlich diesen Menschen, der Vincents Leben krank gemacht, versaut hat, hassen, doch ich konnte es einfach nicht. Schon die ersten Seiten schnürten mir die Luft ab und setzen mir den bekannten Kloß in den Hals. Wie grausam kann man sein, auch wenn man gerade betrunken ist.

Seid hart – Vincent ist es auch!

Aber nicht nur Harlan lernen wir als furchtbaren Menschen kennen, sondern auch Vincents Mutter. Drogen und Männer stehen vor ihren Kindern und warum nicht den Sohn verkaufen, wenn man dadurch eine bessere Zukunft haben kann. Ich konnte erst nach über 100 Seiten wieder aufblicken, so derart negativ fasziniert war ich. Mir tat alles weh, aber ich konnte meine Augen nicht von den Worten abziehen. Die Hoffnung gab ich nie auf und fieberte immer mit – aber warum nur und musste ich das überhaupt?

Liebe ist egoistisch. (Seite 210)

Ihr müsst es lesen, ihr müsst die Menschen kennenlernen, die sowas tun – aber ihr müsst vor allem Vincent beistehen und euch in Joey Goebels Worte hüllen, von ihm schockieren lassen. Ich bereue keine Seite und Lebensblätter wandeln sich. Macht euch auf einige Qualen gefasst, auf Erpressungen, Drogen, Gewalt, Sex und Manipulation. Seid hart – Vincent ist es auch!

Eure
Vincent

Vom Ende der Einsamkeit ~ Benedict Wells

Vom Ende der Einsamkeit ~ Benedict Wells
Vom Ende der Einsamkeit ~ Benedict Wells

Vom Ende der Einsamkeit (Diogenes) von Benedict Wells ist ein gebündeltes Wortpaket voller Emotionen, Lebensfragen und Charakteren die in dieser Ausprägung gewiss nicht gleich an der nächsten Bushaltestelle stehen.

Habe ich tatsächlich im August 2011 das letzte Werk aus seiner Feder gelesen? Warum eigentlich? Fast genial liegt schon fünf Jahre zurück und genau fünf Jahre musste ich warten, bis ich mich erneut zwischen wellsische Zeilen fallen und treiben lassen konnte. Fünf Jahre – aber wie heißt es doch so schön – was lange währt, wird gut?

Und gut ist Benedict Wells neuer Roman. Gut ist an dieser Stelle auch nicht passend – er ist grandios, er ist rund, er ist wahnsinnig bewegend und er ist eine tiefe Reise durch drei Charaktere, die alle das gleiche Schicksal in der Kindheit ereilt hat. Der tragische Verlust der Eltern. Unfall. Tod. Einsamkeit…

„Was sorgt dafür, dass ein Leben wird, wie es wird?“ (Seite 11)

Und dann trifft es mich hart. Motorrad. Unfall. Koma. Ich kann nicht anders, ich muss den Roman kurz zur Seite legen. Der Wortschlag war zu hart. Kurz sammeln, eigene Emotionen zurück drängen und in die Geschichte fallen lassen. Benedict wird wissen, was er schreibt, was er mir erzählt…

„Dein wahrer Freund ist jemand, der immer da ist, der dein ganzes Leben an deiner Seite geht. Du musst ihn finden, das ist wichtiger als alles, auch als die Liebe. Denn die Liebe kann vergehen.“ (Seite 33)

Ich bin zurück bei Jules und lasse mich mit den Strömungen mitreißen. Im Jahr 1980 war Jules sieben Jahre alt, das Leben war in Ordnung. Wenige Jahre später ist alles anders – nicht nur ihn, sondern auch seine Geschwister Liz und Marty ereilte ein großer Schicksalsschlag. Ein Autounfall holt die Eltern der drei aus ihrem Leben. Von jetzt auf gleich – Waisenkinder. Ein Unfall ist schon schlimm genug, doch wenn man im Streit auseinander geht und man sich nie wieder entschuldigen kann, dann ist das härter als hart.

Jules muss damit leben…

Wenn die Eltern-Säulen der Familie wegknicken, bleiben Geschwister und Freunde. Jules steht an einer Lebensweiche. Zusammenhalt ist wichtig und gleichzeitig keine Verständlichkeit. Erst recht dann nicht, wenn drei Kinder unter Schock stehen und erstmal mit sich selbst klar kommen müssen. Ein Weg wird sich heraus kristallisieren. Alva – Jules beste Freundin ist da.

„Eine schwierige Kindheit ist wie ein unsichtbarer Feind, dachte ich. Man weiß nie, wann er zuschlagen wird.“ (Seite 136)

Der Verlust der Eltern ist nicht einfach so akzeptierbar und kreist wie ein Helikopter über Jules. Ein Helikopter dem nie das Kerosin ausgeht, es sei denn, die Chemie kommt ins Spiel. Das Leben dreht sich weiter und Alva ist mal nah und mal fern. Doch nicht nur Alva entgleitet ihm, auch seine geliebte Schwester Liz entfernt sich – ist weg. Die Einsamkeit kriecht heran…

„…das Gegengift zu Einsamkeit ist nicht das wahllose Zusammensein mit irgendwelchen Leuten. Das Gegengift zu Einsamkeit ist Geborgenheit.“ (Seite 171)

Doch wir ernten, was wir säen – ist es nicht so? Wir laufen nicht nur nach vorn, sondern gehen auch Wege zurück. Wir fliegen durch die Zeit – die Zeit fliegt, Ängste entstehen. Alva  taucht auf, das Unveränderliche, ein anderes Leben beginnt und doch fühlt sich die Begegnung mit ihr nach vielen Jahren wie ein Stoß in die Vergangenheit an.

„Vielleicht solltest du einmal in deinem Leben etwas bis zum Ende festhalten, statt immer gleich weiterzuziehen.“ (Seite 295)

Benedict Wells lässt uns nicht nur in eine andere Welt tauchen, andere Leben durchfühlend leben, sondern er hält uns unbewusst an, über uns nachzudenken. Mir ging es oft so, dass ich an einigen Sätzen regelrecht hängen geblieben bin. Ich habe diese immer und immer wieder gelesen und überdacht und reflektiert. Bücher bereichern dein Leben noch mehr, wenn du sie zum richtigen Zeitpunkt liest. Benedict hat mir mit einigen Sätzen zu wichtigen Gedanken verholfen und indirekte Entscheidungen getroffen. Das ist der Mehrwert am Buch – wenn Wortfluten in dein Leben schwappen und die Strömung des Leserlebens bereichern.

„Das Leben ist kein Nullnummernspiel. Es schuldet einem nichts, und die Dinge passieren, wie sie passieren. Manchmal gerecht, so dass alles einen Sinn ergibt, manchmal so ungerecht, dass man an allem zweifelt.“ (Seite 299)

Sein Buch, sein Roman, nein, sein Werk ist einfach durchgehend grandios und voller Wortgewalt. In zwei Teilen lässt er seinen Erzähler Jules, welcher gleichzeitig auch Hauptprotagonist ist, allerhand erleben. Er hangelt sich durchs Leben, kämpft mit der Liebe und dem Schmerz, mit dem Verlust und der Trauer und er flüchtet sich in heile Gedankenwelten. Vergangenheit und Gegenwart – nicht nur ein, sondern drei mehr oder weniger komplette Leben treten vor uns. Benedict Wells holt uns so tief ins Buch, dass das Auftauchen in die Realität am Ende sehr schwer fällt. Der Verlust ist groß, denn die Charaktere sind so lebensecht, dass man als Leser jeden Schritt mit läuft.

Vom Ende der Einsamkeit ~ Benedict Wells
Vom Ende der Einsamkeit ~ Benedict Wells

Nicht nur Jules holt die schwierige Kindheit ein. Auch Marty, der auf den ersten Blick den wohl besten Lebensweg erwischt, hat zu kämpfen – Zwangshandlungen und Ticks bestimmen seinen Tag. Liz rutscht völlig ab und handelt unüberlegt und oftmals unter Drogeneinfluss. Jules wandelt sich vom lebenslustigen Jungen, in einen in sich gekehrten Mann und versucht sich immer und immer wieder in die Fotografie zu verlieben, sich in ihr zu verlieren – dem Vater wegen.

Die Kapitel, in denen er immer ein paar Jahre zusammenfasst und deren Schwerpunkte intensiv thematisiert, haben eine unwahrscheinliche Realitätswucht, aber auch poetische Züge. Vor allem ab dem Zeitpunkt des Wiedersehens, drehen sich zwei Eieruhren des Lebens. Schriftsteller Alexander Nikolaj Romanow altert und seine Erinnerungen schwinden – Jules und Alvas Erinnerungen werden klarer und vermehren sich.

Mehr möchte ich euch nicht erzählen. Mehr Worte und Zitate bedarf es wohl auch nicht, denn jeder Literaturliebhaber wird erkennen, dass es sich hier um einen Buchschatz handelt, der lange nachhallen wird.

Interviewzeit

Benedict – ich verneige mich vor dir, vor deinen Charakteren, vor jedem Satz mit dem du in mir Gefühle und Gedanken hervorgerufen hast. Und ich verneige mich vor der Lebendigkeit dieses Kunstwerkes, was sich verdammt real angefühlt hat und nicht wie eine Flucht in eine andere Welt…

Eure
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[キッチン] Kitchen ~ Banana Yoshimoto

Literatwo: Banana Yoshimoto ~ Kitchen
Literatwo: Banana Yoshimoto ~ Kitchen

Gestern hat die japanische Autorin ihren 50, Geburtstag gefeiert und ich möchte ihr heute nachträglich gratulieren und ihr hier einen Platz geben.

7 Jahre ist es her, das ich in das Werk der Autorin Banana Yoshimoto abgetaucht bin. Ich habe es damals oft mit mir herum getragen, darin hin und her geblättert und einzelne Sätze mehrmals gelesen.

7 Jahre sind eine lange Zeit und man kann dem Roman ansehen, dass er nicht nur von mir gelesen wurde. Das Cover ist leicht geknickt, der Buchschnitt etwas angegilbt und doch sind die Seiten im Inneren blütenweiß und die schwarze Schrift sticht ins Auge und ruft „liest mich“.

Lesebienchen hat den Roman vor vier Jahren gelesen und schrieb folgende Worte:

„Ein wunderbares Buch über Einsamkeit, Verlust, aber auch die Liebe. Banana Yoshimoto gelingt es durch eine eindringliche, präzise Sprache die Gefühle ihre Protagonisten lebendig werden zu lassen. Man verfolgt als Leser gebannt die Entwicklung von Mikage, Yuichi und Eriko und ganz sanft bahnt sich in der Dunkelheit des Todes ein kleiner Lichtschimmer an, der langsam Gestalt annimmt.“

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[London] Die Seltsamen ~ Stefan Bachmann

Die Seltsamen - setzt euch zu uns ans Lagerfeuer
Die Seltsamen – setzt euch zu uns ans Lagerfeuer

Diesen Roman wollten wir unbedingt zusammen lesen. Endlich mal gemeinsam „Fantasy“ und zudem – sind wir nicht alle ein wenig seltsam? *lach*

Stefan Bachmanns Debüt Die Seltsamen (Diogenes) mussten wir so lesen, dass wir uns ständig austauschen konnten. Wir sind dazu an einen Leseort, der richtig gut zum Roman passt, gereist und haben wundervolle Lesestunden verbracht.

Ferropolis – die Stadt aus Eisen, passt einfach thematisch sehr gut zum Roman. Die Steampunk-Kulisse versetzte uns ins Qualmzeitalter und erwachte vor unseren Augen zum Leben. Die schwarzen Federn, welche die 18 Kapitelanfänge schmücken, schwebte um uns herum und trugen uns nach London…

Setzt euch zu uns ans Lagerfeuer, wir erzählen euch, was wir mit diesem Werk erlebt haben…

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[funny girl] Zwischen Burka und Barbara Streisand

funny girl -
funny girl – ein Buch mit Burka

Vierfacher Ehrenmord bewegt Kanada

„Abscheulich, hinterhältig und ehrlos“ nannte der Richter die Taten Mohammed Shafias, der seine drei Töchter und ihre Stiefmutter 2009 ermordete und anschließend einen Unfall vortäuschte.

Nein, so beginnt der neue Roman von Anthony McCarten nicht. Oder vielleicht doch, denn noch vor dem eigentlichen Beginn steht eine Widmung, die sich einprägt und beim Lesen jedes einzelnen Buchstabens mitschwingt:

Im Gedenken an Zainab Shafia (1990-2009).

Ja, Zainab Shafia ist eine jener 3 Töchter, die 2009 von ihrem eigenen Vater mit gerade mal 19 Jahren ermordet worden ist. Ein Mord, der nicht nur die Welt, sondern vor allem den Autor McCarten erschüttert hat.

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funny girl – Superhero
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