Schlagwort: Grégoire Delacourt

3x kurz = 1x lang

3 x kurz = 1 x lang

3x kurz = 1x lang – klingt logisch oder?

Nachdem ich euch am 31.12.2016 meine Altlasten gezeigt habe, präsentiere ich euch heute zwei weitere Altlasten aus dem Jahr 2016 und gleich zu Beginn ein ganz aktuelles Buch. Die drei Bücher sind aus drei ganz unterschiedlichen Genres, wie ihr gleich merken werdet. Lasst euch drauf ein und springt kurz und knapp von einem brandaktuellen und sehr pornösen Buch in den Sommer und lasst euch durch dessen vier Jahreszeiten treiben, um am Ende im Jugendbuch aufzutauchen.

Es dürfte also für jeden Leser ein Buch dabei sein und ich freue mich schon jetzt über eure belebenden Kommentare zu dieser buchigen Mischung.

Der große rote Sohn ~ David Foster Wallace

Jedes Jahr findet im Caesars Palace in Las Vegas die Verleihung der Adult Video News Awards statt, der Oscars der Pornoindustrie. Im Auftrag der Zeitschrift Premiere besucht David Foster Wallace 1998 die Preisverleihung sowie die zugehörige Pornomesse und lässt sich dort von Branchenjournalisten mit so schönen Namen wie Dick Filth die subtilen Hierarchien, erbittertsten Branchenfehden und wildesten Gerüchte dieser ziemlich flamboyanten Parallelkultur näherbringen. Er schreibt über geklaute Trophäen, größenwahnsinnige Regisseure, naturschöne Darstellerinnen, wahre Klischees und das Pornobusiness als gänzlich ironiefreie Zone.

[© Text/Inhaltsangabe Kiepenheuer & Witsch]

Pornös genial

Gibt es das? Was habe ich gelacht und gestaunt und vor allem habe ich meinen ersten, nein, zweiten Wallace gelesen. Gemeinsam mit Arndt, auch den Wallace-Kenner genannt, habe ich mich auf die Preisverleihung begeben und zugehört, wie sich Darsteller zweideutig bedanken, „ihren Mann zu stehen, sich gesundzustoßen oder im Kommen zu sein.“ Und dabei geht doch alles so ernst los, in dem über US-Amerikaner gesprochen wird, die sich kastriert haben. Ohje, immer diese unkontrollierte Triebbefriedigung. Ihr werdet lachen, ihr werdet staunen und ihr erlebt David Foster Wallace und seine Kommentare in den Fußnoten, welche sich gern mal über mehrere Seiten strecken. Schon wenn ich an Seite 45 denke, haken sich meine Mundwinkel bei den Ohren ein und mir tut der Bauch vor lachen weh. Lest rein, lest euch durch und treibt es nicht zu bunt und vorher geht ihr noch bei Arndt nachlesen, was er über den großen roten Sohn schreibt. Er hat ihn mal so „richtig in die Hand genommen“ und tobt sich nicht jugendfrei aus. Also zieht euch was drüber, ähm, warm an. 😉

Die vier Jahreszeiten des Sommers ~ Grégoire Delacourt
Die vier Jahreszeiten des Sommers ~ Grégoire Delacourt

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Alle meine Wünsche – können 18 Millionen € erfüllen

Vor einigen Tagen fragte ich euch auf Facebook, was ihr machen würdet, wenn ihr 18 Millionen Euro im Lotto gewonnen hättet. Würdet ihr ein neues Leben beginnen und wie würde das aussehen? Oder würdet ihr es für euch behalten, vielleicht niemanden davon erzählen und euer Leben so wie jetzt weiter leben?

Die Antworten waren sehr facettenreich, wie ihr HIER nachlesen könnt. 18 Millionen – eine Summe die locker ausreicht, um sein Leben abzusichern, sich, seiner Familie, seinen Freunden, Wünsche zu erfüllen und einen großen Teil zu spenden, um kranken oder sozial schwachen Menschen zu helfen. Und selbst dann, würde noch jede Menge Geld übrig bleiben.

Genug geträumt und gedacht – es geht literarisch weiter, die 18 Millionen gehören dazu.

„Ein literarisches Juwel“ – diesen Satz, welcher mir auf dem Rücken des Schutzumschlages ins Auge springt, kann ich nur unterschreiben.

Das ganze Werk ist ein Juwel, da bereits das Cover Tiefe und Poesie ausstrahlt, romantisch wirkt und erkennen lässt, dass  etwas Vorgezeichnetes verschwimmen wird. Der dunkelblaue Einband lässt ein bildliches Eintauchen zu, ein Eintauchen in den Lebenssee der 47-jährigen Jocelyne.

Kreativer Blog

In Arras, einem nordfranzösischen Ort, betreibt Jocelyne einen Kurzwarenladen. Knöpfe, Wolle, Garn, Bänder, Spitze – ein umfangreiches Sortiment beherbergt ihr liebevoll eingerichtetes Geschäft. In diesem fühlt sie sich wohl, sie kann sie selbst sein und betreibt zusätzlich noch ein Handarbeitsblog „Zehngoldfinger“. Ihr Blog beinhaltet nicht nur kreative Tipps und Berichte, sondern auch eine gewaltige Portion Lebensfreude. Jocelyne geht es gut, wenn sie auf ihr jetziges Leben blickt. Es liegen dunkle Zeiten hinter ihr. Ihre Mutter ist vor ihren Augen gestorben, sie hat ihr drittes Kind nach der Geburt verloren und seit diesem Tag ist ihre Beziehung ein Scherbenhaufen. Ihr Vater ist im Pflegeheim, ihn kennzeichnet die „6 Minuten Erinnerung“. Jocelyne ihr Mann trägt den Namen Jocelyn, kurz Jo.

Die Chance lag damals schon bei eins zu Millionen, dass sie einen Mann heiratet, dessen Name ihrem so ähnelt. Ihre zwei Kinder sind in die weite Welt gezogen und führen ihre eigenen Leben. Ihr Leben trägt den Namen „Kurzwaren Jo, vormals Maison Pillard“, mit den Zwillingen aus dem Nachbargeschäft versteht sie sich gut, deren Tagträume sich um einen Lottogewinn drehen. Sie animieren Jocelyne ebenfalls einmal Lotto zu spielen, denn wäre ein Gewinn nicht herrlich? Schönheitsoperationen, ein neues Leben beginnen, alle Wünsche erfüllen, dies wäre doch das absolute Lebensglück.

Lottomillionär

Eine Chance zu Millionen ist der ausgefüllte Lottoschein und das Glück wird wahr. Und nun? Jocelyne behält diese Nachricht für sich. Die schwere Zeit mit ihrem Mann, scheint überwunden, er scheint sie wieder zu lieben und das Leben wie es jetzt ist, ist nicht das schlechteste. Geld bringt Neider, Geld lässt Gefühle verschwinden, Geld zieht gefährlichen Erfolg mit sich, die Begierde zerstört und zieht Lügend und Freunde, die keine Freund sind, an.

Und doch toben Listen in Jocelynes Kopf, sie könnte sich Träume erfüllen, kleines Glück kaufen, anderen helfen und ihr Leben neu gestalten. Lange Wunschlisten stellt sie immer wieder neu in ihrem Kopf zusammen. Ist das der Sinn des neuen Lebens? Materielle Dinge kämen dazu, doch die Liebe die ihr andere Menschen entgegen bringen, würde sich wandeln, es wäre eine andere und Komplimente wären Lügenkomplimente, des Geldes wegen.

Ihr Bauchgefühl sagt, dass sie dieses Geheimnis für sich behalten muss, denn sonst würde alles zerbrechen. Sie besitzt das Glück, was man mit Geld zerstören konnte. Als Jocelyne einen Entschluss fasst, zerbricht zeitgleich die Unmöglichkeit des Zerbrechens.

Gedankensee

Ich tauche nach 126 Seiten aus einem wahren Gedankensee auf, muss mich ordnen. Ich fühle mich ernüchtert, die letzte Seite erzeugt förmlich dieses Ausnüchterungsgefühl. Grégoire Delacourt, ein Autor, ein Mann, schreibt über das Leben einer Frau, so authentisch, dass bereits diese Tatsache meisterhaft ist.

Mit kurzen prägnanten Sätzen klöppelt er aus Wörtern das Lebensmuster Jocelynes. Jeder Satz ist eine Nadelmarkierung voller Poesie und Tiefgang. Er legt seinem Leser einen Schal um, strickt ihn ein und bringt nach und nach Verzierungen an. Ein Druckknopf für ein beklemmendes Gefühl, eine Sicherheitsnadel für den Halt, einen Holzknopf für die Zerbrechlichkeit, eine Schleife die sich schnell lösen kann. Er bedient sich verschiedener Werkzeuge.

Häkelnadelwörter, die unter die Haut gehen, stumpfe Stricknadelwörter zum Umhüllen, Nähnadelwörter um aufzuwühlen, um innerliche Schmerzen zu erzeugen.

Jocelyne versuchte alles richtig zu machen, ihr Glück zu halten, ihr Glück zu leben und doch verstrickte sich ihr Leben und setzte ihr Knöpfe auf, welche sie bei ihrem eigenen vorgestellten Lebensweg nie verwendet hätte.

Es lohnt sich Delcacourts Wortfaden aufzugreifen, den Wörterknäuel aufzuwickeln und in die Welt seiner Protagonistin einzutauchen. Ein berührendes, aufwühlendes, bodenständiges Werk mit schillernder Farbauswahl in der schweren Leichtigkeit des Lebens.

„Alle meine Wünsche“  (Hoffmann und Campe) – eine Lebenswunschwundertüte.