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Wir können nichts verändern, was wir jemals angerichtet haben. Unbedachte Verletzungen und gezielte Schmährufe kommen oft leicht von den Lippen, besonders wenn man sich in einer Gruppe versteckt. Die Folgen sind oftmals fatal. Unkalkulierbar. Binea und ich haben uns diesem Thema schon mehrfach gewidmet. Diesmal begeben wir uns gleichzeitig in ein Buch. Binea liest – ich höre. Und unmittelbar danach haben wir alle Karten auf den Tisch gelegt.

Impressionen, Gefühle, Inhalt, Wirkung und anhaltende Botschaft des Romans Tote Mädchen lügen nicht haben uns dazu veranlasst, dem Buch in Print- und Audiofassung ein besonderes Augenmerk zu schenken. Eine Teambesprechung der literatwoischen Art eben. Binea fängt mal an… ein Anfang ohne Ende 😉

Am Ende des Buches liegt Hannah Bakers Liste neben mir. Von Kassettenseite zu Kassettenseite habe ich alle Namen aufgelistet und Verbindungslinien zwischen ihnen gezogen. Wenn ich mir die Namen ansehe und daran denke, was diese Personen gesagt oder getan haben, kann ich ihren letzten Schritt, sich das Leben zu nehmen, nachvollziehen. Eine Lawine hat sie überrollt, der sie einfach auf Dauer nicht standhalten konnte, vor allem nicht, wenn die Lawine immer größer und schneller wird.

In mir toben Emotionen. Ich bin traurig, wütend, fühle Hass, aber auch Hilflosigkeit. Hannah war ein Mädchen, das fest im Leben gestanden hätte, wenn diese Menschen nicht diese unauslöschbaren Einschnitte in ihr Inneres gefügt hätten. Ein Buch, das einem selbst bewusst macht, was Sätze, die man ganz unbewusst sagt in anderen Menschen auslösen können. Auch Sätze, die man bewusst sagt, oder Handlungen, die man bewusst begeht, um bei einem anderen Menschen etwas zu bewegen, waren hier der Hauptauslöser. Oft werden bei diesen auch noch so kleinen Mobbingattacken nicht die Folgeschäden, die man damit auslösen könnte, bedacht.

„Niemand von uns weiß genau, wie viel Einfluss wir auf das Leben der anderen haben. In der Regel gibt es keine konkreten Hinweise, uns so machen wir einfach weiter, ohne unser Verhalten zu überdenken.“

In Hannahs Fall stauen und stapeln sich diese bewussten und unbewusst ausgelösten Handlungen und gesagten Sätze so sehr, dass kein Platz für mehr in ihrem Leben für weitere ist. Hervorgerufen von Menschen, die sich Freunde oder zumindest Klassenkameraden und Bekannte nennen. Der Kuss, der nicht echt war, die Freundschaft die keine war, fehlende Anerkennung, eine Abstimmungsliste und vieles mehr, ließen Hannah verzweifeln.

Ein Buch, das von Jugendlichen gelesen werden muss oder sogar gleich mit in den Unterrichtsstoff aufgenommen werden sollte. Es bietet ein großes Diskussionspotenzial und öffnet die Augen. Der ganze Plot des Romans sticht für mich bereits aus der Masse hervor. Der Autor hat diese Grundidee mehr als brillant umgesetzt und mit einem nachvollziehbaren und Emotionen auslösenden Inhalt bestückt. Das Buch ist in einer Art Dialogform geschrieben, bei der sich die Gedanken von Clay Jensen und Hannahs Stimme auf der Kassette abwechseln. Dabei ist der Teil, der von der Kassette abgespielt wird, in kursiv gedruckt, um den Leser nicht zu verwirren. Gerade diese Dialogform macht das Buch lebendig, als ob man selbst die Playtaste gedrückt hätte und bei Hannas Worten in Gedanken antwortet.

Ein Päckchen ist der Anfang vom Ende, denn dieses hat Hannah nach ihrem Tod, an den ersten von insgesamt 13 Menschen losgeschickt. Sieben Kassetten mit 13 besprochenen Seiten. Auf den Kassetten hat sie ganz bewusste Anweisungen zur Handhabung geben und jeder ist gezwungen ihr Aufmerksamkeit zu schenken, sie anzuhören, vom ersten bis zum letzten Wort. Jeder wird, wenn er an der Reihe ist, erfahren, was er selbst dazu beigetragen hat, dass Hannah nun nicht mehr unter den Lebenden ist. Wenn derjenige oder diejenige dann weiß warum, sollen die Kassetten an den oder die Nächste weiter gesendet werden. Auch wenn man dies aus Angst oder Scham nicht tut, hat Hanna vorgesorgt und abgesichert, dass diese Kette nicht unterbrochen werden kann.

Clay Jensen durchfährt eine Gänsehaut, als er ihre Stimme hört und gleichzeitig fragt er sich, warum er diese bekommen hat. Ein Irrtum wahrscheinlich, da er sich nicht vorstellen kann, wo sein persönlicher Fehler liegt. Clay muss nun alle Seiten anhören und vor allem er will diese auch anhören. Er hat den Tod von Hannah nicht verkraftet und auch eine Art Neugier in sich, da er gern die Frage des Warums beantwortet hätte. Als Clays Mutter ihn stört, zuckt er wie auch der Leser selbst zusammen, jede Unterbrechung löst ein eigenartiges Gefühl aus. Als ob man ertappt wurde bei etwas Verbotenem, aber auch aufgrund der Spannung ist jede Unterbrechung eine Qual.

Als ob man gejagt wird, als ob es jetzt, wo Hannah tot ist, immer noch um Zeit geht oder etwas verhindert werden kann, liest bzw. hört man, um alle Gründe zu kennen. Bei diesem Buch darf man einfach nicht unterbrochen werden. Clay Jensen und der Leser hören gebannt Hannahs Worte, laufen zu den benannten Plätzen und bauen innerlich eine große Spannung der Zerrissenheit auf, denn Hannah ist tot und wird tot bleiben.

Jay Asher hat mich mit seinem Roman begeistert und beeindruckt. Das Buch ist die Empfehlung für Jugendliche und auch für Erwachsene. Ich glaube nach diesem Buch hat sich in einem selbst, in seiner Sicht, so einiges verändert und gedreht.

Ein bewegender Roman über ein Mädchen das sich nirgendwo mehr sicher fühlte, ganz zuletzt wurden sogar ihre Gedanken der Lächerlichkeit preisgegeben.

Inhaltlich trifft Binea den buchigen Nagel wie immer auf den Kopf… wir sind uns so sehr einig darüber, dass dieses Werk sehr wichtig ist und aus dem Mainstream zum Thema Mobbing deutlich heraussticht. Ich habe es nicht gelesen. Ich habe es gehört und obwohl ich kein Hörbuchfan der ersten Stunde bin, ist mir hier etwas passiert, das mich mehr als begeistert hat.

Zwei Klasse-Sprecher, eine Geschichte und im Mittelpunkt ein Kassettenrecorder, wie ich ihn selbst noch von früher kannte. Was ist besser geeignet für die Audiofassung eines Romans – dachte ich. Ich ließ mich in die Geschichte fallen und lauschte der Einleitung. Ein Beginn wie in jedem Hörbuch – mir wird vorgelesen. So wie immer – ich muss mich konzentrieren – so wie immer und dann kommt ein Geräusch, dass mich innehalten lässt.

Das erste Klick verändert das Hören.

Es ist das Geräusch, mit dem der Recorder beginnt, das erste Band abzuspielen. Hannahs Stimme ertönt… kräftig und doch verletzt. Ich erfahre schnell, dass dies ihre letzten Worte sind – letzte Worte auf 13 Seiten von 7 Kassetten. Ihre Abrechnung mit den Schuldigen an ihrem Freitod. Ich schaudere. Das ist kein Hörbuch… ich bin selbst mittendrin. Ich schaue mich um, ob mir jemand zuhört – habe fast ein schlechtes Gewissen, Hannahs intimsten Moment zu belauschen. Den Moment, in dem sie mit der Welt um sich herum abschließt.

Wenn jemals ein Hörbuch eine einzigartige Daseinsberechtigung hatte, dann dieses. Wenn jemals das Hörbuch wichtiger und eindrucksvoller sein kann, als seine Romanvorlage, dann dieses. Und wenn man jemals lieber hören als lesen möchte – dann bitte hier! Ein unvergesslich unmittelbarer Eindruck von der großen Geschichte eines toten Mädchens, das nicht zur Lüge fähig ist.

Auch Binea musste sich dann schließlich in das Hörbuch wagen… zum Abschluss unserer Reise durch diese magische Geschichte rundet ihre Meinung auch meinen Eindruck vom Hörbuch ab:

Auch ich als Nicht-Hörbuchfan muss betonen, dass man unbedingt den Versuch wagen sollte, reinzuhören. Die Stimmen sind sehr deckungsgleich zu meinen Kopfstimmen, die ich während des Lesens hatte. Clay Jensen wird von Robert Stadlober und Hannah Baker von Shandra Schadt gesprochen. Ich habe es nach dem Buch gehört und dadurch, dass Clay auch hört, macht es die Geschichte noch authentischer. Vor allem die Geräusche wenn Clay das Tonband unterbricht oder wieder zum Laufen bringt, erzeugen das Gefühl wirklich neben ihm zu sitzen.

Ihr habt nun die Wahl, ob euch Hören oder Sehen vergehen soll. Egal wozu ihr euch entscheidet, die Geschichte ist groß. Greift zum Buch oder zum MP3-Player… Hauptsache ihr verinnerlicht den letzten lauten Hilferuf eines Mädchens, dem die Umwelt fast keine Chance gegeben hat.

Literatwo empfiehlt:

Das Buch
Tote Mädchen lügen nicht

Broschiert – 288 Seiten
9,99 €
CBT-Verlag

oder

Das Hörbuch
Tote Mädchen lügen nicht 

Audible
13,95 €
4 Std. 46 Minuten

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0 comments on Tote Mädchen lügen nicht…

  1. Nachdem ich gesehen habe, dass das Hörbuch gekürzt ist, würde mich interessieren, ob Binea feststellen konnte, wie arg die Kürzung gegenüber dem Buch geschehen ist. Ich bevorzuge nämlich ungekürzte Hörbücher (schließlich lese ich ja auch Bücher ganz und nicht nur teilweise).

    • Liebe Anne, ich habe das Buch gelesen und wie so oft, kommen mir und Arndt Ideen, wenn wir stundenlang telefonieren. Arndt habe ich mit meinen Erzählungen angefixt und er meinte, es wäre vielleicht gut, wenn er es hört. Daraufhin hab ich ebenfalls in das Hörbuch reingehört. Ich habe einige Stellen gehört und es genossen, da es wirklich gut gesprochen ist und das Klicken ganz besonders in die Stimmung der Protagonisten versetzt.

      Wir haben uns über Buch und Hörbuch unterhalten und keines der Gespräche deckte eine Hörbuchlücke auf. Ich kann dir leider nicht sagen, ob es gekürzt ist oder nicht, uns ist jedenfalls nichts aufgefallen. Eins zu eins haben wir nicht verglichen, aber meiner Meinung nach, dürfte man auch bei einer Kürzung nichts merken, da du ja die volle Länge, wenn du das Buch nicht gelesen hast, nicht merken würdest.

      Wir können beides empfehlen – Hör- und Lesegenuss!

  2. Das steht schon so lange auf meiner Lesewunschliste und ich muss es endlich mal schaffen es zu lesen….oder mir das Hörbuch zu besorgen! Danke dass ihr mir dieses Buch wieder in Erinnerung gerufen habt!

  3. Mittlerweile habe ich das Hörbuch gehört, und ich muss sagen, dass in diesem Fall das Hörbuch wirklich ein gutes Medium ist. Man hört ja wirklich die Kassetten mit.
    Aber die Geschichte selber fand ich dann gar nicht so toll. Ich kann Hannah nicht verstehen. Klar hat sie unschöne Dinge erlebt, aber dass nur die sie bis zum Selbstmord treiben, kann ich nicht nachvollziehen. Und schon gar nicht, dass sie den einen, der ihr sicher hätte helfen können und wollen, zurückweist. Auf den Kassetten klingt sie doch so, als könne sie sehr wohl ihre Position vertreten und sich wehren, jetzt will sie es allen zeigen, ihnen wohl ein schlechtes Gewissen machen, dass sie an ihrem Tod schuld seien. Warum ist sie nicht vorher schon energischer aufgetreten?

    • Wir betrachten es auch als Musterbeispiel für ein Hörbuch….absolut beeindruckend. Deine inhaltlichen Bedenken kann man natürlich diskutieren – wir haben auch sehr lange darüber gesprochen und wir sind zu dem Schluss gekommen, dass es wohl wirklich typisch für den Charakter dieser jungen Frau war, alle Verletzungen in sich rein zufressen und den verzweifelten Befreiungsschlag dann in dieser Form zu setzen.

      Untypisch ist das jedenfalls nicht. Und wer hätte Hannah eigentlich so richtig ernst genommen in dieser Phase… gefühltes Mobbing vollzieht sich häufig so….

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