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…unscheinbar, leise und weiß wie frisch gefallener Schnee schleicht sich der unbesiegbare Sommer ins literatwoische Wohnzimmer. Das Buch scheint eingefroren zu sein. Der Schutzumschlag fühlt sich kalt an. Und doch zieht es magisch an, etwas unbesiegbares scheint in ihm zu warten. Es ruft, es möchte gelesen werden, es trägt eine Geschichte in sich, die warm und kalt zugleich ist. Die wunderschön und doch so grausam ist, die etwas Liebe und mehr Leid in sich bereit hält. Weiß die Hauptfarbe des Covers – rein, unbefleckt, unschuldig, frisch. Weiß – die Farbe des Glaubens, des Lichts, der Bescheidenheit, der Wahrheit und der Klugheit.

Bereits die erste Begegnung mit Lina, einem fünfzehnjährigen Mädchen aus Litauen, verläuft hektisch. Lina muss packen, jetzt sofort. Es stehen Männer vor der Tür, böse uniformierte Männer, sie reden mit ihrer Mutter in einem unfreundlichen Tonfall. Lina soll sich beeilen, es bleiben 20 Minuten in denen sie schnell ein paar Sachen einpacken soll, viele warme Sachen und auch wertvolle Gegenstände, nur nützliches darf mit. Lina versteht die Welt nicht mehr, sie steht unter Schock, ihr Vater ist nicht da, ihr 10jähriger Bruder Jonas ist völlig durcheinander und ihre Mutter ist voller Panik und die Männer der sowjetischen Geheimpolizei schauen auf die Uhr und warten ungeduldig.

Aufbruch ins Ungewisse

Sie müssen los, ein Lastwagen steht vor der Tür, in dem bereits einige andere Menschen mit ihrem Gepäck sitzen. Menschen die auch auf der Liste stehen. Angstvolle Gesichter blicken Lina an, Lina die noch immer ihr geblümtes Nachthemd an hat, wie sie erst jetzt merkt. Eine lange Reise ins Ungewisse beginnt, eine Reise die leider kein fürchterlicher Alptraum ist.

Die Fahrt im Lastwagen gleicht einem beginnenden Höllentrip. Angst, Verzweiflung und Panik liegen in der Luft und ständig kommen mehr Menschen dazu. Vor allem Frauen und Kinder, einige sind verletzt und eine Mutter die soeben ihr Kind entbunden hat, liegt blutend auf dem Boden. Ein glatzköpfiger Mann murmelt, dass alle sterben werden. Lina versucht nach draußen zu schauen, sie sucht ihren Vater, Kostas Vilkas, der Rektor der Universität ist. Sie sieht ihn nicht, dafür aber Mutters Cousine, die nach ihnen ruft, doch Mutter schaut sie nicht an.

Dawai!, Dawai!

Die Fahrt endet an einem Bahnhof. Dawai!, Dawai!, rufen die sowjetischen Offiziere. Dawai!, dawai!, alle Gefangene sollen in die Waggons einsteigen, Beeilung, alles muss schnell gehen. Hunderte, tausende von Menschen hetzen, werden getrieben, alle als kriminell eingestuft. Fast wurde Jonas von ihnen getrennt, Linas Mutter konnte mit einer Taschenuhr, die sie zum Glück bei sich trug, schlimmeres verhindern.

„Habt ihr euch je gefragt, wie viel ein Menschenleben wert ist? An diesem Morgen hatte das Leben meines Bruders den Wert einer Taschenuhr.“

Der Waggon ist überfüllt, es stinkt und niemand kennt den Grund warum er gefangen ist. In einem Waggon mit der Aufschrift „Diebe und Huren“, ein Waggon der anfängt zu rollen, in eine Zukunft die keiner kennt. Noch nicht. Lina und Jonas vermissen ihren Vater, er muss doch auch irgendwo sein, in einem Männerwaggon vielleicht. Auch Andrius der mit seiner Mutter im Waggon sitzt, hält nach seinem Vater Ausschau und springt aus dem Wagen als dieser hält. Lina und Jonas folgen, sie kriechen zwischen den Rädern von Wagen zu Wagen, neben diesen stehen die Offiziere mit geladenen Gewehren, bereit auf jeden zu schießen, der sich außerhalb des Zuges befindet, der flüchten will.

Lina kann ihr Glück nicht fassen, für einen kurzen Moment ihren Vater zu sehen um anschließend wieder lebend zurück zu ihrer Mutter in den Waggon zu rennen. Die Fahrt geht weiter, es wird kälter, die Zeit scheint kaum zu vergehen. Es ist eng, es stinkt, es ist dunkel, niemand weiß wo der Zug lang fährt, ob er je wieder halten wird und vor allem was dann passiert. Ungewissheit und Hunger machen sich breit, fressen sich in die Seelen der Gefangenen.

Zeichnungen der Hoffnung

Ein anderes Leben beginnt für Lina, Jonas und deren Mutter. Keiner weiß was er tun soll, es heißt abwarten und hoffen. Alle noch Lebenden im Waggon wachsen immer mehr zusammen, sind füreinander da und schwören sich, immer beieinander zu bleiben. Lina versucht ihren Schockzustand abzuschütteln, ihr Gedankenkarussell für einige Momente anzuhalten und beginnt in den Staub auf dem Boden zu zeichnen. Sie wollte Kunst studieren und nutzt jede Möglichkeit sich kreativ auszuleben. Nun sucht sie Zettelfetzten und irgendwelche Gegenstände mit denen sie zeichnen oder schreiben kann. Sie ritzt ins Holz, sie möchte festhalten, was ihr und den anderen passiert.

Sie verarbeitet Momente in Zeichnungen mit der Hoffnung, dass diese gefunden werden. Zettel voller Botschaften fertigt sie an, vor allem für ihren Vater, damit sie ihn irgendwo wiederfindet. Wo auch immer es möglich ist, versucht sie Spuren zu hinterlassen, Hilfeschreie, damit irgendwann bekannt wird, was ihnen passiert ist. Nach tagelanger Reise hält der Zug mit den abgemagerten, frierenden und kranken Menschen endlich an. Dawai!, dawai!, ertönt es unermüdlich aus den Mündern der sowjetischen Offiziere. Dawai!, dawai!, willkommen im neuen Leben, willkommen im Arbeitslager. Der Alptraum geht weiter und steigert sich ins unermessliche. Tod, Krankheit, Gewalt, Angst, Schmerz, Kälte, Hunger, und  Arbeit kennzeichnen die Tage.

Samen aus Hass

„Ich pflanzte einen Samen des Hasses in mein Herz und schwor, dass er zu einem großen Baum heranwachsen würde, dessen Wurzeln alle Feinde erwürgen.“

„Ich zeichnete ein Hakenkreuz auf Jonanas Handfläche, Hammer und Sichel auf meine Handrücken und dazwischen eine zerfetzte, fallende litauische Flagge.“

Mit ist kalt, ich bin emotional, ich bin ergriffen und kann kaum schlucken während ich lese. Die Autorin Ruta Sepetys lässt mich zu Lina ihrem Schatten werden. Ich musste genauso hektisch meinen Koffer packen, saß mit im Lastwagen, saß mit im Waggon nach Sibirien, war mit im Arbeitslager. Meine Hände konnten vor zittern kaum das Buch halten, ich fühlte mich kraftlos und fröstelte. Und doch lebte die Hoffnung in mir, wie ein unbesiegbarer Sommer.

Unbesiegbarer Sommer

Lina kämpfte innerlich, zeichnete und musste stark sein. Ihr Schicksal akzeptieren, ihr Schicksal leben, ihr Schicksal in Leben umwandeln. Sie klammerte sich an jeden noch so kleinen Lichtblick, umgeben allerdings von dunkelster Dunkelheit. Fühlte täglich die Pistole im Nacken, den Tod im Blick, doch kleine Atemzüge voller Glück erwärmten ihren innerlichen Kämpfermotor. Jonas und ihre Mutter konnte sie nicht im Stich lassen und der Stein, welchen ihr Andrius schenkte, hielt ihr dieses Ziel unermüdlich vor Augen. Bestimmte Worte und Handlungen erzeugten in Lina Gedanken an ihr bisheriges Leben, an das sie fortwährend denkt. Ein Leben voller Wärme, Liebe und Wohlbefinden. Ein Leben was es nur noch in ihren Erinnerungen gibt.

Ruta Sepetys widmet dieses Buch ihrem Großvater Jonas Sepetys, er war hoher Offizier als der Hitler-Stalin-Pakt geschlossen und Litauen sowjetisch besetzte wurde. Menschen wurden in Gruppen eingeteilt, deren Namen auf Listen notiert, Männer und Frauen getrennt und schließlich deportiert. Er wurde exekutiert.

Lina

Die Autorin hat mit ihrer Hauptprotagonistin und Ich-Erzählerin Lina einen Charakter geschaffen, der stark und verletztlich zugleich ist. Lina erzählt eine Geschichte, die leider nicht nur eine Geschichte ist und zwar so authentisch, direkt und unverschönt, dass man als Leser einen Gefühlsstrudel erlebt, schwitzt und friert zugleich. Gezielte Wortestiche lösen im Leser das Nachdenken über die Kriegszeit aus, machen noch bewusster, was damals passierte. Die Meisten kennen nur die deutsche Geschichte über den Nazionalsozialismus, die mindestens genauso grauenvolle Zeit in den baltischen Ländern jedoch wird selten erwähnt, bleibt oft unerwähnt.

Hätten wir das überlebt? Was Lina in all den Jahren passierte, unter welchem Druck und unter welchen Ängsten und Qualen sie litt, was sie mit erleben und ansehen musste.

Die Autorin hat aus meiner Sicht ihr Ziel erreicht. Sie wollte ein Stück der Geschichte Litauens unvergessen machen. Das ist ihr mit diesem Buch mehr als gelungen, mehr als das. Im Video erzählt die Autorin selbst, warum sie dieses Buch schrieb und warum es für sie eine Liebesgeschichte ist…

Liebe ist die stärkste Armee

Ich bin ergriffen, vor allem nach dem Epilog und meiner persönlichen Erkenntnis, das nach allem was passierte, nach allen Qualen, nach allem Leid, eine Person, die ich während des Lesens abgrundtief hasste, doch etwas liebenswertes an sich hatte. Die damaligen Menschen waren auch nur Menschen und taten das, was sie tun mussten, ob sie es wollten oder nicht. Emotional lausche ich immer wieder den Worten der Autorin und den Menschen, die sie in Litauen getroffen hat, um mehr über die Vergangenheit zu erfahren.

LIEBE IST DIE STÄRKSTE ARMEE – ein Satz von ihr, der wunderschön ist, absolut hervoragend zum Buch passt und vor allem so wahr ist.

Tief, tiefer, grenzenloser Tiefgang…Danke Ruta Sepetys für diesen Roman, ich bin immer noch bei Lina.

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