Wo beginnt Zeitgeschichte und wo hört sie endgültig auf – wie kann man Trennlinien ziehen, die es augenscheinlich gar nicht gibt? Ist das Sterben von Zeitzeugen wirklich das Ende des zeitgeschichtlichen Direktbezugs? Ich glaube nicht. Mein Großvater war 14 Jahre alt, als der weltbekannte Schriftsteller Leo Tolstoi in Russland im Alter von 82 Jahren starb. Es war Schulgespräch, Lehrer haben geweint um diese Legende und die Welle der Trauer erreichte sehr schnell die Gestade des kaiserlichen Deutschlands.

Unvergessen blieb dieses Jugenderlebnis für meinen Großvater, der nur vier Jahre später und dann noch mal einige Jahre darauf in die Kriegsmühlen zweier Weltkriege geschleudert wurde, beide überlebte und mir bis zu seinem Tod im Alter von 92 Jahren seine Zeitgeschichte erzählen konnte.

Er also lebte, als Leo Tolstoi im Jahr 1910 seine letzten Atemzüge tat – mit 14 bekommt man das mit, erfährt man die Popularität und spürt die Betroffenheit der schulischen Umgebung. Es begann die Zeit ohne Tolstoi, die sehr schnell zur Zeit mit Tolstoi wurde, da seine Werke nun erst Recht gelesen werden mussten, sollten und auch noch durften. Davon hat mein Großvater erzählt. Und während er im zarten Jugendalter nicht ahnen konnte, welche Mühlsteine bereits langsam in Schwung kamen, um ihn zu zermalmen, da beendete eine Lungenentzündung das Leben eines großen Schriftstellers.

Er ist mir nah – so wie mein Großvater – durch Erzählungen und die Bücher – Zeit- und Literaturgeschichte vermögen es, die normalen zeitlichen Fesseln zu sprengen und greifbar zu bleiben. Spürbar, fühlbar und so wunderte es mich nicht, dass ich beim Lesen von „Tolstojs letztes Jahr“ so oft an meinen Großvater denken musste. Und auch daran, wie ich mich selbst in jenem Jahr 1910 wohl gefühlt hätte.

Hätte ich Tolstoi verehrt oder müde mit der Augenbraue gezuckt? Ich finde darauf keine Antwort, da sich der wahre Leo Tolstoi niemals erschlossen hat. Weder seiner Familie, seinen Anhängern und noch viel weniger der breiten Öffentlichkeit, die seine Werke und Lebensumstände nur vom Hörensagen her kannte. Es gibt sie einfach nicht, die tolstojanische Lebensphilosophie, die Leitlinie oder den Charakterzug eines großen Menschen. Unbeständig, wechselhaft und widersprüchlich.

So muss das Leben und Wirken Leo Tolstois beschrieben werden. Aus der Widersprüchlichkeit seine Energie beziehend, aus der Diskontinuität die kreativen Schübe ableitend, aus dem steten Wandel unterschiedliche Perspektiven gewinnend – dies scheint für mich das Geheimnis Tolstois zu sein.

Wer sollte diesem Schiff ohne Navigator folgen können, wer sollte es lenken können, wer sollte sich in dieser Umgebung wohl und geborgen fühlen? Aller Luxus und alle Reize eines Lebens in Unabhängigkeit, alle Leidenschaft zur Triebhaftigkeit des Körpers, alle narrativen Ideen seiner großen Romane, wie Krieg und Frieden oder Anna Karenina, warf er mehrfach über Bord und konterkarierte sie durch den beharrlichen Glauben an das schiere Gegenteil. Und dies in aller Ausschließlichkeit. Wer ihm folgte musste umfassend folgen oder im täglichen Kampf zermürbt untergehen.

Die beabsichtigte Verteilung seines Besitzes an die Allgemeinheit, sein oft gebetsmühlenartiges Herunterbeten eines diffusen Keuschheitsideals und die literarische, fast missionarische Neuausrichtung seiner Kreativität konnten nur als Frontalangriff auf seine eigene Welt und damit auf die Menschen, die von ihm abhängig waren gewertet werden. Und dies in den letzten Jahren seines Lebens. Wer käme in der heutigen Zeit damit zurecht? All das, was man gemeinsam aufgebaut hat, nun negiert und in einer ungeahnten Form der existenziellen Bedrohung ausgesetzt zu sehen. Kampflos würde sich niemand dieser Verlustangst und Verantwortung entziehen können.

Wie musste sich Sofia Tolstaja fühlen? Mutter der gemeinsamen 13 (!) Kinder, 16 Jahre jünger als ihr Mann und seit ihrem 18. Lebensjahr an seiner Seite? Konnte man ernsthaft erwarten, dass sie sich ziel- und verantwortungslos und ohne jeglichen Selbsterhaltungstrieb dem schlingernden Kurs dieses literarischen Schlacht-schiffs anvertraut und so, vollkommen ankerlos, in den Untergang driftet? Ich denke nein – das kann man auch in der Rückschau auf die damaligen Ereignisse nicht erwarten.

Das von ihr gezeichnete Bild reicht von „schwierig“ bis „psychopathisch“ – sie soll alleinige Ursache für Tolstois Flucht von seinem Landgut und der damit einhergehenden Erkrankung bis hin zu seinem Tod gewesen sein. Ursache für das Lebensschicksal eines Mannes, der sich selbst in ungezählten Ausweichmanövern aus dem Kurs gebracht hat. Verzweifelt kämpft sie um ein Erbe – zumindest um die Rechte an den frühen Romanen ihres Mannes – und diesen Kampf führt sie nicht nur gegen Leo Tolstoi selbst, sondern gegen die Schmeichler und Fanatiker in seinem Umfeld, die Aasfressern gleich die Beute langsam niedersinken sehen.

Sie kämpfte gar mit literarischen Mitteln. Begab sich auf das von Tolstoi dominierte Schlachtfeld, auf dem alle taktischen Vorteile nur bei ihm lagen und erwiderte seine „Kreutzersonate“, in der er aus Sicht seiner Leser alle Motive der wahren Liebe in den Schmutz zog und seine Ehe als erbarmungswürdigen Zustand darstellte, mit einem eigenständigen Roman. „Eine Frage der Schuld“ beschreibt hier, quasi als Replik auf Tolstois Text in differenzierter und einfühlsamer Form die schleichende Entfremdung eines Ehepaars. Der Roman wurde ausschließlich für einen einzigen Leser geschrieben – für Tolstoi selbst, der am eigenen Leib erfahren sollte, wie es sich anfühlt als Romanfigur vor der Öffentlichkeit bloßgestellt und demaskiert zu werden. Wahrlich ein Duell auf hohem Niveau.

Nein – ich kann sie nicht verurteilen – Bedauern und Bewunderung halten sich hier die Waage. Nicht zuletzt ist sie ein Teil der lebendigen Widersprüchlichkeit im Leben Leo Tolstois, die dafür verantwortlich war, dass er uns ein brillantes literarisches Vermächtnis hinterlassen konnte.

Die Triebfedern seines Schreibens waren niemals Harmonie oder Zufriedenheit. Nur eine derart ungleiche Lebensbeziehung zweier Menschen, die sich wie Wechselpole einmal magisch anzogen, dann wieder brutal voneinander abstießen, kann als das wahre Geheimnis des Lebenswerks von Leo Tolstoi betrachtet werden. Es ist also weniger eine Frage der Schuld, als die der veränderten Lebenseinstellung des großen Schriftstellers, die als Ursache für die Ereignisse kurz vor dem Ende seines Lebens von Bedeutung ist. Ein Mensch der innerlich derart zerrissen ist darf sich nicht wundern, wenn auch das Äußere Risse bekommt und am Ende aller Tage in sich zusammenfällt. So geschehen am 20. November 1910 in der Abgelegenheit eines kleinen russischen Bahnhofs.

So und nicht anders nehme ich den Schriftsteller und sein Werk in der heutigen Zeit wahr. Inspiriert von seinen Büchern, von seinem Leben und der zufälligen Kreuzung der Zeitebenen mit der Jugend meines Großvaters stehe ich an der Pforte des 100. Jahrestages des Todes von Leo Tolstoi. Tausend Gedanken schießen mir durch den Kopf, wie ich mich diesem Tag nähern und mit welchem Buch ich auch heute noch auf ihn aufmerksam machen kann. In all seinen Facetten und den weitreichenden Nuancen seines Schaffens.

Ich bin dankbar, dies nicht alleine tun zu müssen, sondern in der Begleitung zweier Menschen, die sich diesem Tag auf wundervolle Weise verschrieben haben.

Binea und ich stießen bei einem gemeinsamen Spaziergang in München auf „Für alle Tage“ , ein ganz besonderes Buch. Wie es immer passiert, sprang es uns gemeinsam an und ließ uns nicht mehr los. Allein, es zu kaufen und mitzunehmen war aufgrund seiner Ausmaße und seines Gewichtes nicht möglich. Wahrlich kein Taschenbuch. Kurze Zeit später, die Gedanken hatten sich nicht eine Spur von diesem beeindruckenden Werk entfernt, entwickelte sich die Idee, es zur Grundlage unseres Projekts „Leo Tolstoi – gestern und heute“ zu machen. Es sollte unser Dreh- und Angelpunkt werden. Das Zentrum einer kleinen literarischen Zeitreise. Und die Räder dieser Zeitmaschine sind weitere Bücher von oder über den großen russischen Schriftsteller. Kein Rädermeer, obwohl dies möglich wäre – nein – ein paar kleine gut profilierte Lesewinterrädchen, die uns auf dieser Reise bewegen sollen – im wahrsten Sinne des Wortes.

Ein weiterer Weggefährte bei diesem Projekt ist der Münchener Photograph Peter Helbig, der es in besonderer Weise versteht, mit Bildern Botschaften zu transportieren und dann in einem weiteren Schritt das Bild allein zur Botschaft werden zu lassen. Angetan von Tolstois Welt und inspiriert durch die Beständigkeit seiner Aussagen und Zitate, war es ein Leichtes für PATH, sich für dieses Projekt zu erwärmen.

Gemeinsam mit ihm wollen wir den Versuch wagen, Zitate von Leo Tolstoi in die Welt des 21. Jahrhunderts zu bringen, sie in einen zeitgemäßen bildlichen Bezug zu setzen und dann die modernen Bilder zu einzigartigen Botschaftern aus längst vergangener zeitloser Zeit werden zu lassen.

Literatwo meets PATH

– lesensehenfühlen –

Leo Tolstoi gestern und heute

0 comments on Unser Tolstoi… Eine Projektskizze – vielleicht sogar mehr als das!

  1. Danke noch mal für diesen hervorragenden, wenn auch schon vor längerer Zeit verfassten, monumentalen Artikel! Ich bin jetzt noch mal durch euren Hinweis auf facebook heute auf ihn gestoßen. Danke! Das Buch hat seinen Weg aus den Tiefen meines Wunschzettels nach ganz oben gefunden. Zum sofortigen Kauf ist es leider immer noch zu … naja.. gewichtig 😉

    • Monumental – das ist wohl wahr, aber es ist eine Arbeit, die zeitlos ist und wir sind mehr als stolz auf diese Artikel – in gewisser Weise war die auch ein Start von umfassenderen Projekten auf Literatwo – mit Fotograf und vielschichtiger Recherche.

      Ein Meilenstein eben – auch für uns!

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