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Fußball – EM – endlich geht es los, hieß es vor ein paar Wochen. Heute sind wir bereits mitten drin und Deutschland steht im Viertelfinale. Na war hätte das gedacht, dass wir nach den nicht so herausragenden Testspielen die bisher beste Mannschaft sind?

Das runde Leder rollt und da es auch Fußballfans gibt, die auch gleichzeitig Bücherverschlinger sind, uns mal ganz hinten angestellt, wollen wir euch einen davon heute vorstellen. Francis Mohr – unseren heutigen Gastrezensenten haben wir auf der Leipziger Buchmesse kennengelernt. Ja, auch zwischen sämtlichen Literaturgesprächen gab es das ein oder andere Fußballspiel zu besprechen, auszuwerten.

Aus dem lustigen hin und her frotzeln, da Francis einer anderen Mannschaft als ich die Daumen drückt, kristallisierte sich doch ein Gespräch über Literatur heraus und Francis hat sein Versprechen gehalten, nach dem Lesen des Buches darüber zu berichten. Er hat es getan, wie ihr jetzt lesen könnt. Literarisch finden wir uns auf der gleichen Ebene wieder, aber nur literarisch, auf Faneben kann das nie etwas werden  😉

„Wodka für den Torwart. 11 Fußball-Geschichten aus der Ukraine“ – hat Francis auf der Buchmesse magisch angezogen und passend zur EM präsentiert er uns und euch heute seine Meinung über das runde öhm eckige Büchlein. 

Ab Juni diesen Jahres kicken in Polen und der Ukraine titangehärtete Männerbeine um die Fußballkrone Europas. Die Züge donnern dann unaufhaltsam in Richtung Osten und mit ihnen bunte Fan-Massen, die eben dorthin wollen, wo man zu feiern weiß. Und zu feiern weiß man im Osten – in Polen und erst recht in der Ukraine.

Und wie, um das zu untermauern, bohrten sich nun die Stifte ukrainischer Federkünstler ins Papier, um uns auf ihre Heimat, ihre Mentalität und ihren Fußball vorzubereiten. Uns ungeniert mit Wahrheiten zu schocken, die über unseren provinziellen westlichen Horizont hinausgehen dürften. Mit „Wodka für den Torwart“ werden uns 11 stilistisch hochwertige Geschichten über den Fußball in der Ukraine serviert, die man getrost als dritte Halbzeit konsumieren darf. Unverstaubte, frische und saftige Texte in glänzenden Übersetzungen treiben den Leser förmlich zum Elfmeterpunkt. Man muss nicht zwingend für den König Fußball glühen, um sich für die zum Teil bizarren und phantastischen Geschichten zu begeistern. Auch manchem Autor der Geschichten merkt man beim Lesen dessen versteckte Abneigung, aber eben auch Faszination für den Kampf ums runde Leder an. Aber das stört nicht, unterstreicht es doch die Breite der Sichtweisen auf die größte Nebensächlichkeit der Welt.

„Fußball löst unsere Probleme nicht… ist eine große Illusion. Im Unterschied zum übrigen Leben gibt es im Fußball noch das unglaubliche Gefühl echter Gegenwehr, klarer Trennung, gerechten Richtens. Denn im Fußball ist alles klar und einfach – weiße Hemden, schwarze Hosen, orange Wolken, grüne Sonne, rosa Gras.“ So meint Serhij Zhadan, der uns hineinzieht in einen Tag eines Fußballfans von früh bis wieder früh.

Auf alle elf Geschichten einzugehen, würde diese Rezension sprengen und dennoch seien einige Hervorhebungen erlaubt.

In „Die uns beobachten“ entwirft Jurij Wynnytschuk einen historischen, fiktiven bis phantastischen Plot. Lemberg kurz nach dem zweiten Weltkrieg, von den Sowjets besetzt und vom NKWD tyrannisiert. Zwei Fußballmannschaften treffen aufeinander – eine Auswahl ukrainisch-katholischer Seminaristen und eine Auswahl des NKWD. Ein verrückter Hausmeister taucht Jahrzehnte später auf, stiftet Verwirrung und wirft Fragen auf, die möglichst unbeantwortet bleiben sollen. Eine unglaublich spannende und emotional bewegende Geschichte, mit Mut zur eigenen politischen Meinung – ein Plädoyer gegen stalinistische Gewaltherrschaft.

Das Finale der Fußball-EM wird in Kiew steigen und in eben diese Metropole entführt uns Tanja Maljartschuk, die allerdings einen düsteren Stadtrundgang per Tinte organisiert. „Aber fehlende Zuneigung kann natürlich – und das wird der Text zeigen – mehr offenbaren als blindes Anhimmeln.“ Und das schafft die Autorin in ihrem persönlichem Reiseführer zu Kiew in bissiger Weise.

Maxym Kidruk lässt in „Der Transfer“ einen aus Italien importierten Fußballstar in Kiew verschwinden, um die Geldsorgen von Max zu beenden. Eine rasante und witzige Story um den fiktiven Fußballclub Torpedo Kiew, den es eigentlich nur als Online-Soccer-Verein in einem virtuellen Fußballverband gibt.

In Artem Tschechs „Ein letzter K.o.-Schlag“ trainiert der ins Alter gekommene und dem Alkohol verfallene ehemalige Boxchampion Bruchanda eine Jungenmannschaft von Behinderten im Fußball, wenngleich er noch nicht einmal die Regeln beherrscht, geschweige denn die Abseitsregel kapiert. Aber diese zufällige Herausforderung hebt ihn aus seiner Einsamkeit und Agonie. Eine trostlos melancholisch anrührende Geschichte.

In „Die Ballade vom Abseits“ entführt uns Oksana Sabuschko lyrisch in die Tragik des Abseits. Es ist das einzige Gedicht unter den Geschichten, behauptet sich aber, ob seiner überraschenden Wendung in der letzten Zeile und reicht damit eher an eine Shortstory in lyrischer Form als an ein verkopftes und vertextetes Poem.

Das Buch mit seinen zweihundert Seiten ist flott gelesen. Kurzbiografien der Autoren und Übersetzer zeigen deren hohes künstlerisches Ausbildungsniveau auf und die an sie verliehenen Literaturpreise unterstreichen das. Die Autoren stammen aus dem Osten (Kiew, Charkiv etc.) und dem Westen der Ukraine (u.a. Lemberg/Lwiw). Der edition.fotoTAPETA und translit e.V. in Berlin sind die brillanten deutschen Übersetzungen und die Herausgabe zu verdanken.

In Zeiten, in denen sich eine müde gewordene, westdeutsch dominierte, Verlagsindustrie, neben dem Kassieren der ostdeutschen Verlagskultur auch um die Zerschlagung osteuropäischer Literaturübersetzungen verdient gemacht hat, ist dieses Buch ein Muss für den Freund der kurzen Geschichte, den Fußballliebhaber und den Galan slawischen Humors.

Von den sogenannten großen Verlagen wünscht man sich einen ähnlichen Mut, gute Literatur zu fördern und ihren Blick in die östlichen Ecken Europas zu werfen, wo noch Geschichten stattfinden, die die Tinte auf dem Papier wert sind.

Francis Mohr

Für alle Fußballfans mit Literaturherz ist dieses Buch wohl ein Volltreffer. Wir danken Francis für die ballsichere Besprechung in der EM-Zeit. Genau das richtige zur Einstimmung auf den Fußballabend und für die sportlich-literarische Überbrückung der Halbzeit.

Und jetzt Daumen drücken für SCHLAAAAANNNDDD !!!

0 comments on Wodka für den Torwart…

  1. „Größte Nebensache der Welt“????
    Falsch!
    „Es gibt Leute, die denken Fußball ist eine Frage von Leben und Tod. Ich mag diese Einstellung nicht. Ich kann ihnen versichern, dass es noch sehr viel ernster ist.“ (Bill Shankly)
    🙂

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