Literatwo: Der Tag, an dem ein Wal durch London schwamm ~ Selja Ahava
Literatwo: Der Tag, an dem ein Wal durch London schwamm ~ Selja Ahava

„Wenn die Menschen allmählich ihre Gesichter verloren, die Tage ihre Bezeichnungen und die Räume ihre Möbel, wenn vier Stunden einfach so verschwanden, nahm Anna ihr Notizbuch zur Hand und konzentrierte sich auf die Tatsachen.“ (Seite 33)

Langsam ließ ich mich in diesen Roman gleiten, ganz langsam, ganz behutsam. Ich wollte mich zwischen die Seiten legen, so wie auf dem Cover die Blätter aufs Wasser. So leise wie möglich wollte ich sein, Anna, die Protagoinistin, nicht aufrütteln oder aus ihrer Lebensbahn werfen.

Nein – zuhören wollte ich, ihren Gedankenbahnen folgen, zwischen ihren Worten tauchen und die bildlichen Erzählungen auf mich wirken lassen.

Anna – sie wird alt, sie ist alt, ihre Erinnerungen wollen entgleiten, die Gedanken stehlen sich immer wieder davon, ihr Gedächtnis ist nicht mehr so, wie es einmal war. Wortlisten sollen Anna helfen, um wichtige Lebensmomenten nicht zu vergessen, um ihr Gehirn zu trainieren, um ihr Leben trotzdem bunt zu halten.

Literatwo: Der Tag, an dem ein Wal durch London schwamm ~ Selja Ahava
Literatwo: Der Tag, an dem ein Wal durch London schwamm ~ Selja Ahava

Anna – jedes Wort von ihr ist ein Blick in ein vergangenes Lebenskapitel. Ein Erinnerungsblick an die schönsten Momente in ihrem Leben, aber auch an Dinge, die sie bis heute begleiten – Gedanken an ihre ungeborenen Kinder. Die wohl liebevollsten Blicke gelten ihrem verstorbenen Mann Antti. Ihre Lebensliebe. Sein Tod hat auch in Anna viele Wurzeln zum Vertrocknen gebracht, einen Teil ihrer Lebensluft abgelassen, sein Tod hat sie stolpern lassen.

Anna – eine Frau, die es kennen zu lernen lohnt. Ob der Verlust des Hundes, der Neuanfang mit Thomas, die Tote im Wald, die Frauen aus dem Altersheim, das Gewitter auf der Insel, überhaupt, die Insel und Antti – ihr verwebtes Leben ist eine Augenweide, die sich durch und durch verbildlicht. Gedankenberge ketten sich aneinander – Gefühle schwirren umher.

Anna. annA.

Anna – ist und bleibt Anna und während des Lesens verspürte ich den großen Wunsch, diese wundervolle Protagonistin einfach mal in den Arm zu nehmen.

„Wäre es möglich, Augenblicke einzufrieren, würde ich diesen in eine Plastikdose legen, dachte Anna. Dann könnte man den Winter über davon zehren.“ (Seite 43)

Literatwo: Der Tag, an dem ein Wal durch London schwamm ~ Selja Ahava
Literatwo: Der Tag, an dem ein Wal durch London schwamm ~ Selja Ahava

Der Tag, an dem ein Wal durch London schwamm (mare) stammt aus der Feder der finnischen Autorin Selja Ahava und berührt zutiefst. Bereits als meine Augen die ersten Worte berührten, wurde ich ruhiger und fühlte mich wie auf dem Entschleunigungsweg.

Bilderfluten zogen langsame Bahnen um mich herum und von Seite zu Seite wuchs Anna mir mehr ans Herz. Eine absolut starke Protagoinistn stellt die Autorin uns vor. Eine Frau, die uns in ihrem Notizbuch der Erinnerungen blättern und uns an ihrem Vergessen teilhaben lässt – erst bewusst, dann unbewusst und schließlich kommen wir mit ihr auf der anderen Seite des Gedankensees an.

Wie der Wal, der durch London schwamm, treiben wir mit Anna umher. Wir kämpfen gegen die Strömung an und doch lassen wir nach, beginnen zu treiben und geben uns der Machtlosigkeit hin.

Literatwo: Der Tag, an dem ein Wal durch London schwamm ~ Selja Ahava
Literatwo: Der Tag, an dem ein Wal durch London schwamm ~ Selja Ahava

Selja Ahava nimmt uns in die Welt von Anna mit – eine Welt, die sich entwickelt wie eine Häkeldecke – immer wieder kommt ein neues „Granny square“ dazu. Und letztendlich können wir uns in diese Decke einwickeln, zudecken und nachdenklich darin träumen.

Tief emotional lässt mich dieser Roman zurück, denn er greift ein Thema auf, welches uns allen im Alter mehr oder weniger begegnen wird.

Ein Werk, welches sich weit oben auf meiner Herzensbuchliste einreiht.

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