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Im Herzen der Gewalt ~ Édouard Louis

Im Herzen der Gewalt ~ Édouard Louis

Meine ersten Gedanken zum Buch waren: das hätte dir genauso passieren können.

Édouard Louis ist Single und ist auf dem Heimweg, als er von einem Mann angesprochen wird. Édouard möchte nach dem Abend mit Freunden nichts mehr unternehmen und die Begegnung mit dem Fremden, welcher den Namen Reda trägt, passt ihm nicht wirklich. Doch er entschließt sich, den Algerier mit in seine Wohnung zu nehmen. Die beiden Männer kommen sich sehr schnell nahe. Sehr nahe sogar, denn es wird durch und durch intim, bis Reda plötzlich Gewalt anwendet.

Diese wenigen Zeilen sollen an dieser Stelle wirklich reichen, denn mehr möchte ich kaum zum Inhalt dieses Romans sagen. Ich bin ebenfalls offen und neugierig und vor mehreren Jahren hätte mir wohl gleiches Schicksal widerfahren können. Denn ich lerne gern neue Menschen kennen und vertraue zu schnell.

Édouard Louis schreibt keine Geschichte, sondern er erzählt uns aus seinem Leben. Wir halten mit „Im Herzen der Gewalt“ knappe 220 Seiten Autobiografie in den Händen. Louis überlebt den Angriff und erzählt davon, wie sich sein Leben verändert hat. Wem vertraut man sich an? Polizei? Freunde und Familie? Er erzählt uns davon sehr intensiv und arbeitet diese Nacht im Roman auf. Als Leser kommt man dem Autor somit unwahrscheinlich nahe und nimmt an den wohl intimsten Momenten teil. Dieses Bewusstsein intensiviert das Leseerlebnis der wirklich besonderen Art. Der junge französische Autor greift dabei tief in die literarische Kiste.

Im Herzen der Gewalt ~ Édouard Louis

Wir Leser stellen uns nicht nur seinem persönlichem Schicksal, sondern sind gleichzeitig gefordert, denn der Roman verlangt nicht nur inhaltlich viel von uns. Sein Schreibstil ist beeindruckend und Herausforderung zugleich. Viele Informationen über diese schlimme Nacht, bekommen wir von seiner Schwester. Diese wiederum gibt ihr Wissen von Édouard an ihren Mann weiter. Doch nicht nur wir lauschen ihren Worten, auch Édouard selbst belauscht sie und hört, wie sie seine Schilderungen weiter gibt. Außergewöhnlich stark gemacht, für uns Leser und den Autor selbst. Wir lesen also nicht nur was er uns erzählt, sondern er ist selbst als Zuhörer zu finden.

Doch Louis erzählt stellenweise auch selbst über die Vergangenheit und hin und wieder finden wir kursiv gedruckt seine derzeitigen Gedanken dazu. Oder er berichtigt und ergänzt gedanklich die Ausführungen seiner Schwester, denn sie gibt nicht immer das wieder, was er wirklich erlebt hat. Eben diese zwei Ausführungen über eine bestimmte Nacht erzeugen den ungewöhnlichen Stil des Romans.

Intensive Lesestunden habe ich mit dem Schicksal von Édouard Louis verbracht. Es hat mich aufgewühlt und schockiert. Gleichzeitig bin ich beeindruckt darüber, dass er so offen ist und seine Rekonstruktion dieser Nacht veröffentlicht hat. Mutig und gleichzeitig auch ein großer Mutmacher.

Wenn euch die Mischung aus autobiografischer Rekonstruktion durch die Worte der Schwester von Édouard Louis, (Homo-)Sexualität, Identität und stückweit Politik anspricht, seid ihr der richtige Adressat.

Ich habe mir anschließend noch ein Interview mit dem Autor durchgelesen, um noch mehr zu verstehen, warum er diesen Roman schrieb und warum er genau diesen Stil wählte.

Eure
Gewalt

180° Meer ~ Sarah Kuttner

180° Meer ~ Sarah Kuttner
180° Meer ~ Sarah Kuttner

180° Meer (S. Fischer Verlag) von Sarah Kuttner wurde mir von meiner lieben Buchhändler-Moni schmackhaft gemacht. Irgendwann konnte ich nicht mehr widerstehen und habe es letztendlich gelesen. Begeisterung soll man teilen und es gibt doch nichts Schöneres, als sich intensiv über ein gelesenes gutes Buch auszutauschen – richtig?

Leider konnte sich Moni aus zeitlichen Gründen nicht mit mir ans literatwoische Lagerfeuer setzen. Dafür hat sich die liebe Mareike vom Blog Herzpotenzial dazu gesellt und sich mit mir über die „Kuttner“ ausgetauscht. Wir wollen euch kein Wort vorenthalten, also nehmt Platz. Keine Angst – wir spoilern nicht, also macht es euch richtig bequem und dreht euch 180° zu uns. 😉

180° Grad Meer – mein erstes Buch von Sarah Kuttner. Meine Freundin Moni hat mich mit ihren Worten angesteckt und auch du, liebe Mareike, hast dazu beigetragen, dass ich auf der Buchmesse in Leipzig letztendlich schwach geworden bin. Ich habe mich um 180° gedreht und das Buch recht schnell gelesen und freue mich nun, auf regen Austausch mit dir. Die erste Fragen, die mir gleich nach der letzten Seite durchs Leserhirn getrieben ist – Was sagst du zum Ende?

Für mich war es ebenfalls das erste Buch von Sarah Kuttner. Die anderen Bücher hatten mich allein optisch schon nicht angesprochen. Dieses hier wirkt schon vom Cover her ruhiger, reifer und irgendwie tiefer. Das ist wohl das Meer auf dem Cover, das schon Vieles vorausdeutet.

Das Ende finde ich unheimlich konsequent, die Wut, die Jule im ganzen Buch in sich trägt, ist auch hier da. Sie wird nicht urplötzlich – wie durch ein Wunder – ein anderer Mensch. Sie ist nicht der Typ, der vergibt und verzeiht und allen ein zart-verzeihendes Lächeln schenkt. Sie ist wütend bis in die letzte Faser, auch am Schluss, als man eigentlich andere Reaktionen erwartet. Ich finde es gut, dass Sie sich nicht hinter Konventionen versteckt. Und dann kommt ganz am Schluss doch eine kleine, zarte Wende, die nicht alles in ein anderes Licht stellt, aber eine kleine Brücke baut. Dinge etwas begreiflicher macht. Alle Figuren haben weiterhin ihre Fehler und doch spürt man plötzlich die Verbindung. Das ist schön und hat mich sehr berührt.

180° Meer ~ Sarah Kuttner
180° Meer ~ Sarah Kuttner

Ich habe „Mängelexemplar“ hier liegen. Es sieht auf jeden Fall noch nicht so reif aus. Dennoch – der Film erscheint bald. Wirst du es bis dahin lesen, wirst du ins Kino gehen?

Maike war sehr begeistert von „Mängelexemplar“ und deshalb werde ich es sicherlich irgendwann lesen – oder den Film gucken, wenn es im Fernsehen läuft. Ich denke nicht, dass ich dafür ins Kino gehe und direkt vor einem Kinofilm lese ich nie das Buch. Ich denke, wenn Buch und Film zeitlich zu nah beieinander liegen, dann kann der Film gar nicht gut abschneiden. Es kommt viel häufiger vor, dass ich erst den Film schaue und wenn er mir gefallen hat, dann greife ich zum Buch. 😉

Wie ist das bei dir? Erst Film oder erst Buch? Willst du in den Film gehen?

Das kommt irgendwie immer drauf an. Eigentlich immer zuerst Buch. Mir fehlt dann wohl auch die Zeit dafür, nach einem Film in ein Buch zu tauchen. Zudem sind dann die Bilder vom Film übermächtig und die eigenen Kopfbilder können sich nicht zeigen. Mängelexemplar reizt mich schon lange – aber der Film wird wohl die Überhand haben, aus heutiger Sicht. Das Buch behalte ich dann trotzdem, als Erinnerung an den Kinoabend. 😉

Zurück zu „180° Meer“.  Den Titel mag ich sehr.  Mir gefällt auch das Cover – aber das liegt wohl auch an dem Grün. Ich liebe dieses grün. Hast du mal den Umschlag abgemacht? Wie das darunter strahlt – so frisch, so frühlingshaft, so gefühlig. Aus meiner Sicht passt das grün zu Protagonistin Jule. Findest du auch?

Das Grün ist wirklich frisch und ungewöhnlich. Ich muss dir aber jetzt ein Geständnis machen: Ich hasse Grün 😉 Tatsächlich meine persönliche Hassfarbe. Irgendwie finde ich sie unangenehm und auch hier auf dem Buch drückt sie für mich eher all das aus, was nicht gut in Jules Leben läuft – und dann kommt das Meer. Der Titel ist toll und mich hat es gefreut, dass er tatsächlich immer wieder im Buch aufgegriffen wurde. Ein Titel, der sich nicht nur gut anhört, sondern auch wirklich eine Funktion im Buch hat. Das gibt es viel zu selten.

Es ist ja Jules absolute Liebe, das Meer 180° ungebremst durch Häuser oder Menschen vor sich zu sehen. Nur das reine, weite Meer – am liebsten ein wenig düster und rau, kühl und nicht zu gefällig.

Das passt auch zur Sprache des Buchs, oder?

Auf jeden Fall. Das sich der Titel durchs Buch zieht, mag ich ebenfalls.

Ja, und nicht nur die Sprache – der ganze Inhalt ist rein und weit und rau und kühl – wie das Meer. Die Worte sind wie das Meerwasser – sie kommen langsam, sie kommen schnell und dann kommen sie so heftig und stark, wie eine hohe Welle und schon findest du dich darunter begraben wieder. Auch die Worte von Autorin Sarah Kuttner sind stellenweise sehr salzig und schmecken nach wildem Strudelwasser. Ihre bildhafte Sprache zeigt uns Lesern Ebbe und Flut. Das du kein Grün magst, ist ja „witzig“– wir sind hier völlig verschiedener Meinung – in Sachen Literatur sprechen wir aber eine Sprache, wie es scheint.

180° Meer ~ Sarah Kuttner
180° Meer ~ Sarah Kuttner

Das Meer – hach, ich liebe es und freue mich auf den diesjährigen Ostseeurlaub. Das Buch hätte ich eigentlich erst dort lesen sollen. Ich habe es drinnen gelesen – und du? Wie sah deine Umgebung – 180° aus?

Ich lebe ja in Hamburg, Wasser ist also allgegenwärtig. Wusstest du, dass Hamburg mehr Brücken als Venedig und Amsterdam zusammen hat? Nun, ich las das Buch oft im Zug auf dem Weg zur Arbeit und habe dabei viel aufs Wasser geschaut, wenn ich am Hafen vorbeikam oder über eine Brücke fuhr. Der Drang, in diesen Momenten aufzuschauen, war wohl noch nie so stark, wie bei diesem Buch. Du hast vermutlich recht, dass man das Buch vielleicht am Meer lesen sollte – aber nicht im Sommer! Es ist kein Buch für Sonnenschein und Hitze. 

Welche Stelle im Buch hat dir besonders gefallen? Hast du ein für dich besonderes Zitat markiert?

Ich mochte ihre Annäherung an den vernachlässigten Hund besonders. Die beiden eher beziehungsgestörten Wesen, die auf ihre sehr eigenartige Weise langsam und mit kleinen Rückschlägen zueinanderfinden fand ich besonders eindrücklich. Keine andere Beziehung im Buch zeigt so sehr ihre stetige, wenn auch langsame Weiterentwicklung, ihr Reifen. Der Hund ist abhängig von ihr und doch kann er ihr jederzeit in die Hand beißen – das ist wohl die harte, nackte Wahrheit über die Liebe: Vertraust du ihr zu sehr, beißt sie zu.

Ich muss gestehen, dass ich eigentlich kein Zitatmarkierer bin. Mich interessieren „herausgerissene“ Sätze nicht so sehr wie die Geschichte an sich. Ich mag den Fluss der Sätze, den Rhythmus, der eine Geschichte treibt. Wenn ich alles um mich herum vergesse und voll im Kopfkino bin, nehme ich einzelne Sätze gar nicht als solche wahr. Wie ist es bei dir? Welches Zitat hast du dir markiert?

„Herausgerissen“ – irgendwie hast du da Recht. So habe ich Zitate noch nie betrachtet. Danke für den Denkanstoß. Ich markiere immer und immer wieder. Dabei sind es nicht nur Sätze, die mich besonders beeindrucken und mit dem Buch in Verbindung stehen, sondern auch Sätze, die ich mit mir und meinem Leben verbinde. Die Markierungen kommen ganz spontan und manchmal, wenn ich Jahre später in bestimmten Büchern blättere, erinnere ich mich dadurch an damalige Situationen, Begegnungen etc. Wenn du dir meine Ausgabe von 180° anguckst, findest du, wenn ich mich auf die Schnelle nicht verzählt habe, 20 knallgrüne Postits. (siehe Foto) Wenn du diese Stellen nachliest, wirst du nicht immer verstehen, warum mich gerade die Sätze bewegt haben. Es sind sozusagen meine Lebensweggedanken, Lebenswegempfindungen, die ich während des Lesens hatte.

180° Meer ~ Sarah Kuttner

Um ein Zitat zu nennen, gleich von der ersten Seite, von Seite 11:

„Meine Präsenz fühlt sich an wie ein Kuss von jemandem mit schlechtem Atem, der sich aber gerade eben die Zähne geputzt hat: eine irritierende Nuance unter neutral.“ (Seite 11)

Wie findest du dieses Zitat? Mich haben die Worte beeindruckt. Dieses spielen mit Bildern im Kopf des Lesers. Ich habe innegehalten, mir das Gelesene bildlich vorgestellt und gedacht, dass ich gern ab und an genau solche Sätze schreiben würde. Hattest du auch solche Momente in denen du so dachtest?

Ja, tatsächlich hab ich mich auch recht häufig dabei erwischt, dass ich dachte: Wow, Sarah Kuttner findet Worte für Gefühle, die ich ziemlich gut kenne. Die Sätze könnten von mir stammen. Ich fand sie bisher eher mäßig sympathisch, doch dieses Buch und seine  Bilder haben mich ihr doch näher gebracht. Wer solch kraftvolle und stimmige Bilder in sich hat, beeindruckt mehr sehr.

Lass uns über ihre Familie sprechen: Wie sieht du ihre Beziehung zum Vater. Dieser hat ja früh die Familie verlassen und die depressive Mutter mit den beiden kleinen Kindern allein gelassen. Ist er für dich der Böse in der Geschichte oder wird er für dich mit der Zeit greifbarer?

Eine Frage, die man wohl nicht so einfach beantworten kann. Zuviel verraten mag ich auch nicht, aber ich muss sagen, dass er mir natürlich am Anfang total unsympathisch war. Aber so sind wir Menschen – wir bekommen eine Information, die nicht der „Norm“ entspricht und schon fällen wir ein kleines Urteil. Richtig? Ich bin zum Glück kein Trennungskind und kann die Situation nur von außen bewerten. Ob er der Böse ist – er hatte seine Gründe und im Laufe der Geschichte werden diese sichtbar – ich mag es nicht sagen. Greifbarer wird er auf jeden Fall. Auch er ist kein einfacher Charaktertyp, aber ein interessanter, der mich neugierig machte.

Ja, das finde ich auch. Er wird greifbarer und etwas verständlicher. Doch insgesamt finde ich, dass Sarah Kuttner ihre Figuren nicht „erklärt“, alle vielleicht in ihrer Komplexität gar nicht vollends begreifbar machen möchte. Sie gibt Einblicke in deren Seelenleben, doch so wie im richtigen Leben wird man das Gegenüber nie vollkommen verstehen können. Literarisch gesehen finde ich es sehr mutig, die Figuren dem Leser nicht komplett zu offenbaren, sondern ihren ihre eigenen Geheimnisse zu lassen. Vielleicht gibt es auch nicht für jedes Verhalten, für jeden Fehler eine genaue Erklärung. Das gefällt mir unheimlich gut. 

180° Meer ~ Sarah Kuttner
180° Meer ~ Sarah Kuttner

Um bei Familie zu bleiben – Jule flieht zu ihrem Bruder Jakob nach England. Ein Ausbruch aus dem Leben – ein Schnitt quer durch den Alltag. In England hat Jule keine Pflichten, sie kifft, sie raucht, sie ist frei und muss sich keinen unangenehmen Worten stellen. Findest du die Flucht feige? Ist kiffen und rauchen die neue Freiheit? Waren dir bestimmte Situationen zu viel oder einfach passend?

An dem vielen Kiffen habe ich mich persönlich etwas gestört – bin ich spießig? Sie entzieht sich eh schon vielen Verantwortlichkeiten, lebt in den Tag hinein. Zu ihrem eher ziellosen Treiben passt kiffen vermutlich ziemlich gut. Es soll wohl eine gewisse Lockerheit und Lässigkeit ausdrücken. Vielleicht eine Form von trotziger, jugendlicher Rebellion, die übrig geblieben ist? Ich persönlich könnte mich nie aus aller Verantwortung so herausstehlen, einfach fliehen und Probleme aussitzen, doch Jule ist authentisch. Ihr Fluchtmechanismus ist tief mit ihrer Kindheit verbunden, sie muss so reagieren, kann gar nicht konkret werden – bei ihrer Familiengeschichte kein Wunder. Ich fand es logisch, wenn auch nicht immer sympathisch, wie sie sich verhalten hat. Doch muss eine Protagonistin immer genauso handeln, wie man es mag oder erwartet?

Nein – eben nicht. Es ist doch gerade für uns Leser schön, wenn eine Protagonistin anders handelt, als erwartet. Das Kiffen gehört zu Jule dazu, das Abhängen auf dem Balkon, das Herumschlendern mit dem Hund – aber alles das ist auch ein Stück große Freiheit – zumindest ab und an und in meiner Gedankenwelt. Einfach mal raus – aber zurückkehren sollte man schon und das in absehbarer Zeit.

Gab es eine Stelle, in der dir ihr Verhalten zu viel wurde?

Vor allem zum Ende des Buches. Da brodelte ihr verdammter Hass immer und immer mehr hoch. Ich hätte sie gern mal angebrüllt und ihr gesagt, dass sie mal die Augen aufmachen soll. Und doch kann ich Jule verstehen…

Vielen Dank für das literatwoische Lagerfeuergespräch, liebe Mareike und Danke fürs Lesen an dich!

Eure
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Gegen das Glück hat das Schicksal keine Chance ~ Estelle Laure

Gegen das Glück hat das Schicksal keine Chance ~ Estelle Laure
Gegen das Glück hat das Schicksal keine Chance ~ Estelle Laure

Gegen das Glück hat das Schicksal keine Chance (FISCHER KJB) von Estelle Laure stahlt optisch und inhaltlich wahnsinnig bunte Facetten aus. Auch wenn der Titel im Grunde das ganze Cover für sich beansprucht, gibt es neben den Farben des Regenbogens einige kleine Symbole zu entdecken. Guckt ihr?

MarienkäferSchwalbeLuftballonsHufeisenRegenschirmMond und Sterne – erzählen eine eigene kleine Geschichte. Ihr wisst genau, welche Gefühle mit den Bildern verknüpft sind und könnt euch denken, dass es im Jugendbuch nicht nur Hochs, sondern auch Tiefs gibt. Das ist nun mal im Leben so – ob bei uns oder ob bei Estelle Laures Protagonisten. Das Glück und das Schicksal – beides gehört doch irgendwie zusammen, oder?

Lucille und ihre Schwester Wrenny sind allein. Nein, sie haben Freunde und Nachbarn und Klassenkameraden, aber keine Eltern um sich. Die Mutter ist verreist und kommt erst nach ihrer Auszeit wieder. Der Vater – er ist zwar da, kann aber nicht einfach vorbei kommen. Lucille und Wrenny sind allein.

„Vertrauen. Was heißt das überhaupt? Wenn du einem Menschen vertraust, drückst du ihm ein Messer in die Hand, das er dir in den Bauch rammen kann.“ (Seite 30)

Gegen das Glück hat das Schicksal keine Chance ~ Estelle Laure
Gegen das Glück hat das Schicksal keine Chance ~ Estelle Laure

Die Tage ohne Mutter vergehen, die zwei Schwestern kommen zurecht, aber dann kommt, was irgendwie kommen musste – die Mutter kommt nicht zurück. Lucille ist zwar schon länger selbstständig und fast volljährig, dennoch ist sie in der Blüte ihrer Jugend und möchte und sollte die Zeit eigentlich genießen und nicht in eine Mutterrolle schlüpfen. Warum nur…

Lucille bekommt Panik, das Geld geht den Geschwistern aus und keine Spur von der Mutter. Der Vorfall mit ihrem Vater hat ein großes Loch in die Familie gerissen und nun sitzen beide im Lebensschlamm fest, obwohl sie eigentlich mit dem Reiten von positiven Lebenswellen beschäftigt sein sollten. Es gibt keine andere Möglichkeit – Lucille braucht einen Job, ihre beste Freundin Eden muss dicht halten und sich in der Zeit um ihre Schwestern kümmern und Wrenny muss so tapfer wie möglich sein und trotz dem kurzfristigen Verlust beider Eltern ihre Hausaufgaben machen und sich in der Schule konzentrieren.

Das Leben beginnt sich wild zu drehen und wird immer schneller und bald drohen die Hände an der Stange des Lebens abzurutschen…

„Ich bilde mir ein, die Dinge, über die wir hier reden, sind sicher, die Worte tropfen aus unserem Mund in die Erde und wachsen in die Bäume, deren Laub unsere Geheimnisse behütet.“ (Seite 39)

Gegen das Glück hat das Schicksal keine Chance ~ Estelle Laure
Gegen das Glück hat das Schicksal keine Chance ~ Estelle Laure

„Leugnen ist für Versager. Stell dich deinen Dämonen und mach weiter. Sonst wirst du alt und depressiv und verwandelst dich in einen fremdgesteuerten Spießer und deine einzige Sorge im Leben ist, wann du deine Dose Limo gegen eine Dose Bier eintauschen kannst.“ (Seite 179)

Als ich in die Geschichte eintauchte, bin ich fast genauso schnell, wie ich drin war, wieder hinausgelaufen. Warum? Weil die ersten Zeilen, der Plott mich so sehr an Bienensterben von Lisa O´Donnell erinnerten. Zwei Mädchen, keine Eltern, alles muss geheim bleiben. Niemand darf merken, dass die Eltern weg sind. Aber in diesem Buch leben die Eltern, bei Bienensterben ist es anders. Ich blieb in der Geschichte. Ich nahm das Schicksal der zwei Mädchen an und wollte sie begleiten.

Die Hoffnung stirbt zuletzt, so heißt es doch so schön und der Titel beinhaltet nicht nur das Wort Schicksal, sondern auch das Glück. Gegen das Glück hat das Schicksal keine Chance – das ist so und das ist gut so.

In Estelle Laures Jugendbuch sind allerhand wunderschöne Zitate zu finden, wie ihr lesen könnt. Drei habe ich ausgewählt, um sie hier zu verankern. Worte die Kraft und Halt geben und Worte die einfach treffen, unbeschönigend offen und hart sind. Sprachlich frisch und jugendlich schreibt die Autorin und trifft damit auf jeden Fall den Nerv der Zeit.

Es gibt keine Kapitel, es gibt Tage. Es gibt keine Kapitel, es gibt Zeitpunkte. Es gibt keine Kapitel, es gibt Lebensmomente.

Taucht ein in das nicht wirklich bunte Leben von Lucille und Wrenny. Nehmt beide in den Arm und begleitet sie einen schweren Weg. Kein Weg ist nur dunkel – das Licht wartet immer irgendwo und erst Recht das Licht der Liebe. Klischee? Kitsch? Weit gefehlt – nicht in diesem Buch. Hier geht es um das Schicksal zweier Mädchen, die einen großen Rucksack tragen müssen und das Glück treffen. Meisterhaft erzählt und so lebensecht…

Happy End? Heile Welt? Lebensliebe? Tiefe Freundschaft?

Lest selbst – ihr werdet nicht enttäuscht sein. Ich habe lange über das Gelesene nachgedacht, mich in vielen Situationen wiederfühlen können und am Ende einfach gelächelt.

Das Leben ist bunt – lasst es uns leben, denn wir werden niemals allein sein. Klingt kitschig? Ist es aber nicht. So!

Eure
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Die wilde Ballade vom lauten Leben

Die wilde Ballade vom lauten Leben ~ Joseph O´Connor
Die wilde Ballade vom lauten Leben ~ Joseph O´Connor

Meistens denke ich mir für die Überschriften der Rezensionen etwas Besonderes aus, etwas, was die Seele des Buches pointiert. Diesmal musste ich nicht lange grübeln, denn der Titel des neues Romans von Joseph O‘ Connor sagt alles. Dieses Buch ist laut wie Punkrock, elegisch und poetisch wie die schönste Ballade und voller Leben.

Erzählt wird die fiktive Geschichte einer Bandkarriere aus den 80er Jahren. Aus der Sicht des ehemaligen Gitarristen der „Ships“, so der Name der Band, werden Aufstieg, Höhepunkte und die Niederlagen einer Rockband geschildert. Alles schon mal dagewesen, nix Neues könnte man jetzt denken. Doch weit gefehlt, denn Joseph O‘ Connor verbindet in seinem Roman die Geschichte einer Band mit der Geschichte einer außergewöhnlichen, zutiefst berührenden Freundschaft.

Robbie und Fran lernen sich in der Schule kennen. Anstatt die Schulbank zu drücken oder später an der Uni Vorlesungen zu besuchen, erkennen beide schnell ihre gemeinsame Liebe zur Musik. Schnell sind Gitarren und Verstärker gekauft und es kann losgehen. Die ersten Versuche sind noch sehr zaghaft, doch schnell zeigt sich ihr musikalisches Talent. Vor allem Fran, der spätere Frontman der „Ships“ entwickelt eine gigantische Singstimme, die seine geheimnisvolle Aura nur noch vergrößert. Gemeinsam geben die beiden Freunde erste Straßenkonzerte und die Band vergrößert sich, die Geschwister Trez und Seth kommen hinzu. Nun heißt es, durch Bars tingeln, in versifften Hotels schlafen oder, wenn die Kohle nicht reicht, gar unter freiem Himmel. Doch das ist egal, denn sie wollen Musik machen, nichts anderes zählt. Und endlich stellt sich der erhoffte Erfolg ein…

Die wilde Ballade vom lauten Leben ~ Joseph O´Connor
Die wilde Ballade vom lauten Leben ~ Joseph O´Connor

Ja, „Die wilde Ballade vom lauten Leben erzählt sicherlich eine typische Geschichte von den Höhen und Tiefen des Rock`n Roll. Es wird gejammt, gesoffen, geliebt und leider auch zu harten Substanzen gegriffen.

„Ein Song hüllt dich ein, hat eine Membran, durch die du schauen kannst, und verändert den Blick und das Licht.“ (S. 379)

„Hätte ich all das nocheinmal zu tun, kann ich nicht versprechen, dass es anders liefe, denn in meinem Herzen war ein Unglück, das mich zur Musik hintrieb, und was kann ein so Getriebener schon ausrichten?“ (S. 49)

Vor allem Fran zeigt sich dem Leser als ein Getriebener, ein Heimatloser, aus Vietnam, adoptiert, misshandelt. Eine charismatische Person, die niemanden so richtig an sich heran lässt, auch den Leser nicht, Einzig Robbie scheint sein Bezugspunkt zu sein. Sein bester Freund, dem er das Herz brechen wird.

Die wilde Ballade vom lauten Leben ~ Joseph O´Connor
Die wilde Ballade vom lauten Leben ~ Joseph O´Connor

Die Schilderung dieser Freundschaft ist es vor allem, die das Buch so einzigartig werden lassen. Ja, vielleicht hat O`Connor hier die kongenialen Rockduos Jagger/ Richards oder Lennon/ Mc`Cartney sich zum Vorbild genommen, aber er beschreibt diese tiefe Freundschaft der beiden Musik-Getriebenen so tief und gefühlvoll, dass es mir an mehreren Stellen die Tränen in die Augen getrieben hat.

„Es war, als liefen wir in einem Konfettisturm aus Songfetzen und geborgten Hoffnungen. Unseren Frust oder unsere Selbsterkenntnis in Musik auszudrücken, wurde zu unserem einzigen Daseinszweck.“ (S. 49)

Und in diesem Zitat zeigt sich ein weiterer Grund, warum dieses Buch trotz vermeintlich durchschaubarer Gesichte so genial und außergewöhnlich ist: O`Connor kann wahnsinnig gut schreiben, witzig, pointiert und gnadenlos beschreibt und analysiert er. Seine Zeilen graben sich tief in die Leseseele, so wie diese über eine der ersten Bandproben.

„Wären die Reiter Apokalypse in diesem Moment die Rutherford Road hochgekommen, ich glaube, wir hätten ihre finsteren Ärsche zurück in die Hölle befördert, oder besser noch, ihnen Eintritt abgeknöpft. Trez griff zur Geige und entlockte ihr ein Kreischen, dass ich am liebsten die Gitarre in Jimmys Vitrine gerammt und jedes Stück Waterford im Raum geköpft hätte.“ (S. 90)

Die wilde Ballade vom lauten Leben ~ Joseph O´Connor
Die wilde Ballade vom lauten Leben ~ Joseph O´Connor

„Die wilde Ballade vom lauten Leben“ ist ein absoluter Lese-, aber auch Hörgenuss, denn O`Connor schafft es, die Musik hörbar zu machen. Und dass ich so manches Mal beim Lesen kurz davor war, nach den „Ships“ zu googeln, um dann immer wieder enttäuscht feststellen zu müssen, dass die Band „nur“ erfunden ist, beweist einmal mehr O`Connors Musikverständnis und schriftstellerisches Talent.

Euer Lesebienchenliteratwo_banner

Mrs Dalloway ~ Virginia Woolf

Mrs Dalloway ~ Virginia Woolf
Mrs Dalloway ~ Virginia Woolf

Wenn man wie ich den „Ulysses“ von Joyce lesen und sich durch unzählige verworrene Episoden hindurchschlängeln musste, hat man erstmal genug von Erzählexperimenten, von den Anstrengungen des Romans des 20. Jahrhunderts, Wirklichkeit abzubilden. Doch irgendwie war da ja noch etwas, es schwirren Wortfetzen wie „The Hours“ oder auch Sätze wie „Mrs. Dalloway sagt, sie wolle die Blumen lieber selber kaufen.“ umher und lassen das Leserherz nicht mehr los. Seit langem schon wollte ich den wohl berühmtesten Roman von Virginia Woolf lesen, seit langem geisterte eine Vorstellung von diesem in meinem Kopf herum, die bestätigt oder revidiert werden wollte. Wird der Roman ähnlich langweilig wie „Ulysses“, ähnlich verworren, ähnlich erzählerisch anstrengend?

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[Wanderbuch ~ Autoren fragen Leser] Wo ein bisschen Zeit ist ~ Emil Ostrovski (2)

Wo ein bisschen Zeit ist ~ Emil Ostrovski
Wo ein bisschen Zeit ist ~ Emil Ostrovski

Wanderbuch – da bist du wieder!

Ende Juli habe ich zur 2. Wanderbuchaktion ~ Autoren fragen Leser ~ aufgerufen und genau nach DIR gesucht. Das Leben läuft nicht immer rund und manchmal gibt es Verzögerungen, aber nun ist alles gut und letztendlich haben die drei Mädels – Julia, Katja und Evy – mitgemacht. Der Roman Wo ein bisschen Zeit ist (FISCHER FJB) ist wieder da und gut gefüllt, so wie ich es mir erhofft habe.

Es ist immer wieder eine Freude in Wanderbüchern zu lesen und wieder in die Zeit zurück zu kehren, in der man es selbst gelesen hat. Genial zu lesen, wie die anderen Leserinnen dachten, als sie an der Stelle waren, wo ich lachte, weinte, zögerte, grübelte und, und, und.

Klebt HaftMarker – markiert Zitate – hinterlasst Bemerkungen – tobt euch beim Lesewandern aus – so schrieb ich und keine der Leserinnen zögerte. Auch wenn es schwerfällt, in einen Roman zu schreiben, ist es ab und an auch leicht, denn das Ergebnis ist einmalig. Ein wundervoller Lesewanderweg ist entstanden und ich bedanke mich fürs Mitmachen!

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[Wanderbuch ~ Autoren fragen Leser] Wo ein bisschen Zeit ist von Emil Ostrovski (1)

Wo ein bisschen Zeit ist
Literatwo: Wo ein bisschen Zeit ist ~ Emil Ostrovski

ES GEHT LOOOHHHOOOS!

Lange habe ich euch hingehalten, aber heute geht es los. Pünktlich zum Verkaufsstart möchte der Roman von Emil OstrovskiWo ein bisschen Zeit ist (FJB) auf Reisen gehen.

Es ist Wanderbuchzeit bei Literatwo und ich suche EUCH!

Wer möchte Teil der Aktion werden und…

…den Roman innerhalb 3 bis 5 Tage lesen…

…während des Lesens im Roman Notizen, Kennzeichnungen etc. machen…

…drei Fragen des Autors beantworten…

und

…ein 2 Sätze Fazit verfassen?

DU? Na dann mach ganz einfach mit!

Schreib bitte einen Kommentar unter diesen Artikel und begründe, warum du mitlesen möchtest und sende zudem eine Email an: Literatwo@aol.de.

Morgen Abend werde ich die Wanderbuch-Teilnehmer(innen) nennen und am Samstag geht das Buch schon auf die Reise!

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