Och nee, bitte nicht schon wieder so ein Jugendbuchauftakt mit einer 17 jährigen Protagonistin, die in einer schlimmen, schlimmen Welt lebt, dann den Held ihrer Träume trifft, den unnahbaren, maximal attraktiven Jungen, in den sie sich prompt verliebt und darüber all ihre Probleme vergisst.
So oder so ähnlich waren meine Gedanken, als mir Binea vorschlug, das neue Buch von Sophie Jordan zu lesen. Ich musste diesmal wirklich einen großen Lesewiderstand bekämpfen, denn pubertäres Liebesgeplänkel vor einer Fantasy-Kulisse wollte ich eigentlich nicht mehr lesen.
So begann ich also zu lesen und tauchte schnell in ein dystopisches Zukunftsszenario in den USA.
„Das neue Gutachten zum Homicidal Tendency Syndome (HTS) belegt, dass das Gen gefährlicher und verbreiteter ist als bisher angenommen. Träger des HTS-Gens neigen zu extremer Gewalttätigkeit.[…] Diese Erkenntnisse […] legen die Durchführung flächendeckender Maßnahmen nahe, um unsere Bevölkerung vor Trägern des HTS-Gens zu schützen…“ (S. 9)
Mittels eines einfachen DNA-Test ist die Wissenschaft also in der Lage festzustellen, wer ein potentieller Mörder ist und wer nicht.
Wer trägt das Mördergen in sich und stellt eine Bedrohung in einer Welt dar, die an sich schon von hoher Kriminalität und Gewalt geprägt ist?
Vielleicht ist es ja Davy: 17 Jahre, musikalisches Wunderkind, Musterschülerin, Anwärterin auf einen Studienplatz an der Juliard. Bei ihr wird das Mördergen festgestellt und von jetzt auf gleich bricht ihre perfekte Welt zusammen: Ausschluss aus der Privatschule, Verlust des Freundeskreis, angespannte Familiensituation. Sie muss auf eine staatliche Schule gehen, wird dort eingepfercht mit anderen, sogenannten Trägern unter Ausschluss der Öffentlichkeit unterrichtet und ist ohne jegliche soziale Kontakte. Ein harmloser Streit zwischen ihr und ihrem Exfreund führt darüberhinaus noch zur Tätowierung des gefürchteten „H“s an ihrem Hals, das sie endgültig und für alle sichtbar als „Mörderin“ brandmarkt.
„Das tintenschwarze Band von zweieinhalb Zentimetern. Das eingekreiste H. Es erinnert mich an das Brandzeichen von Rindern. Dunkel. Tief. Dauerhaft. Wenn man es einmal gesehen hat, sieht man nichts anderes mehr. Nicht den Menschen. Und das ist genau der Zweck.
Der Mensch zählt nicht.
Es zählt kein wer mehr. Nur noch was.“ (S. 90)
Recht schnell und schmerzhaft wird Davy bewusst, dass sie keine Rechte mehr besitzt, sondern dass die Bevölkerung vor ihr und ihren möglichen Gewaltexzessen geschützt werden muss.
Als es in den USA zu einem furchtbaren und tödlichen Zwischenfall kommt, steht für die Regierung fest: die HTS-Träger müssen interniert werden zum Schutz aller.
Davy entgeht einem Internierungslager nur knapp. Da sie über spezielle Fähigkeiten verfügt, wird sie in ein Ausbildungscamp geschickt mit der Aussicht, bei guter Führung, sogar wieder das „H“ zu verlieren. Was sich nach einer echten Chance anhört, wird jedoch bald zu einem bitteren Überlebenskampf.
Und wo bleibt nun die pubertäre Liebeswolke?? Wo bleibt der strahlende Held??
Zum Glück gibt es ihn nicht, jedenfalls nicht so, wie man das Szenario aus anderen Jugendbüchern kennt.
Ja, es gibt eine ganz zarte Geschichte, die sich in all dieser Grausamkeit und Ungerechtigkeit entwickelt. Doch diese bleibt vage, denn die Probleme, mit denen sich Davy und alle übrigen Träger konfrontiert sehen, sind überwältigend und ersticken beinahe jegliche Emotion. Überhaupt stellt sich die Frage, ob sich ein Träger Emotionen leisten kann ob er überhaupt zu diesen fähig ist? Schließlich trägt er ein Mördergen in sich, sein Schicksal steht fest, da ist kein Platz für die Liebe.
Sophie Jordan ist ein großartiges Buch gelungen. Ohne Schmalz, ohne Teeniegeplänkel behandelt sie wohl eine der wichtigsten Fragen überhaupt: wie selbstbestimmt handeln wir? Wer entscheidet: wir oder unsere DNA?
Wer nach den großartigen Büchern von Suzanne Collins etwas ähnliche sucht, dem sei „Infernale“ (Loewe) mehr als empfohlen. Wie Katniss so ist auch Davy eine Hauptfigur, mit der man mitleidet, mitkämpft und fassungslos zusieht. Mit ihr ist Sophie Jordan eine absolut glaubwürdige Protagonistin gelungen, die sich fragt, inwieweit ihr Schicksal genetisch vorherbestimmt ist. Sie reift im Verlauf des Romans immer mehr zu einer starken Persönlichkeit heran, die wieder eine Chance im Leben haben möchte, die kämpfen möchte.
Ähnlich wie Suzanne Collins gelingt es auch Sophie Jordan um die Entwicklung dieser Hauptfigur herum eine mögliche Liebesgeschichte anzudeuten, die jedoch absolut nicht im Fokus steht, gar nicht Hauptthema sein kann, da die Figuren buchstäblich um das nackte Überleben kämpfen müssen.
Ich bin mehr als froh, meinen Lesewiderstand überwunden zu haben, denn mir wäre ansonsten ein genialer Auftakt einer vielversprechenden Jugendbuchreihe entgangen, die nicht nach Schema F abläuft, sondern einen ganz eigenen Weg geht.