„180° Meer„ (S. Fischer Verlag) von Sarah Kuttner wurde mir von meiner lieben Buchhändler-Moni schmackhaft gemacht. Irgendwann konnte ich nicht mehr widerstehen und habe es letztendlich gelesen. Begeisterung soll man teilen und es gibt doch nichts Schöneres, als sich intensiv über ein gelesenes gutes Buch auszutauschen – richtig?
Leider konnte sich Moni aus zeitlichen Gründen nicht mit mir ans literatwoische Lagerfeuer setzen. Dafür hat sich die liebe Mareike vom Blog Herzpotenzial dazu gesellt und sich mit mir über die „Kuttner“ ausgetauscht. Wir wollen euch kein Wort vorenthalten, also nehmt Platz. Keine Angst – wir spoilern nicht, also macht es euch richtig bequem und dreht euch 180° zu uns. 😉
180° Grad Meer – mein erstes Buch von Sarah Kuttner. Meine Freundin Moni hat mich mit ihren Worten angesteckt und auch du, liebe Mareike, hast dazu beigetragen, dass ich auf der Buchmesse in Leipzig letztendlich schwach geworden bin. Ich habe mich um 180° gedreht und das Buch recht schnell gelesen und freue mich nun, auf regen Austausch mit dir. Die erste Fragen, die mir gleich nach der letzten Seite durchs Leserhirn getrieben ist – Was sagst du zum Ende?
Für mich war es ebenfalls das erste Buch von Sarah Kuttner. Die anderen Bücher hatten mich allein optisch schon nicht angesprochen. Dieses hier wirkt schon vom Cover her ruhiger, reifer und irgendwie tiefer. Das ist wohl das Meer auf dem Cover, das schon Vieles vorausdeutet.
Das Ende finde ich unheimlich konsequent, die Wut, die Jule im ganzen Buch in sich trägt, ist auch hier da. Sie wird nicht urplötzlich – wie durch ein Wunder – ein anderer Mensch. Sie ist nicht der Typ, der vergibt und verzeiht und allen ein zart-verzeihendes Lächeln schenkt. Sie ist wütend bis in die letzte Faser, auch am Schluss, als man eigentlich andere Reaktionen erwartet. Ich finde es gut, dass Sie sich nicht hinter Konventionen versteckt. Und dann kommt ganz am Schluss doch eine kleine, zarte Wende, die nicht alles in ein anderes Licht stellt, aber eine kleine Brücke baut. Dinge etwas begreiflicher macht. Alle Figuren haben weiterhin ihre Fehler und doch spürt man plötzlich die Verbindung. Das ist schön und hat mich sehr berührt.
Ich habe „Mängelexemplar“ hier liegen. Es sieht auf jeden Fall noch nicht so reif aus. Dennoch – der Film erscheint bald. Wirst du es bis dahin lesen, wirst du ins Kino gehen?
Maike war sehr begeistert von „Mängelexemplar“ und deshalb werde ich es sicherlich irgendwann lesen – oder den Film gucken, wenn es im Fernsehen läuft. Ich denke nicht, dass ich dafür ins Kino gehe und direkt vor einem Kinofilm lese ich nie das Buch. Ich denke, wenn Buch und Film zeitlich zu nah beieinander liegen, dann kann der Film gar nicht gut abschneiden. Es kommt viel häufiger vor, dass ich erst den Film schaue und wenn er mir gefallen hat, dann greife ich zum Buch. 😉
Wie ist das bei dir? Erst Film oder erst Buch? Willst du in den Film gehen?
Das kommt irgendwie immer drauf an. Eigentlich immer zuerst Buch. Mir fehlt dann wohl auch die Zeit dafür, nach einem Film in ein Buch zu tauchen. Zudem sind dann die Bilder vom Film übermächtig und die eigenen Kopfbilder können sich nicht zeigen. Mängelexemplar reizt mich schon lange – aber der Film wird wohl die Überhand haben, aus heutiger Sicht. Das Buch behalte ich dann trotzdem, als Erinnerung an den Kinoabend. 😉
Zurück zu „180° Meer“. Den Titel mag ich sehr. Mir gefällt auch das Cover – aber das liegt wohl auch an dem Grün. Ich liebe dieses grün. Hast du mal den Umschlag abgemacht? Wie das darunter strahlt – so frisch, so frühlingshaft, so gefühlig. Aus meiner Sicht passt das grün zu Protagonistin Jule. Findest du auch?
Das Grün ist wirklich frisch und ungewöhnlich. Ich muss dir aber jetzt ein Geständnis machen: Ich hasse Grün 😉 Tatsächlich meine persönliche Hassfarbe. Irgendwie finde ich sie unangenehm und auch hier auf dem Buch drückt sie für mich eher all das aus, was nicht gut in Jules Leben läuft – und dann kommt das Meer. Der Titel ist toll und mich hat es gefreut, dass er tatsächlich immer wieder im Buch aufgegriffen wurde. Ein Titel, der sich nicht nur gut anhört, sondern auch wirklich eine Funktion im Buch hat. Das gibt es viel zu selten.
Es ist ja Jules absolute Liebe, das Meer 180° ungebremst durch Häuser oder Menschen vor sich zu sehen. Nur das reine, weite Meer – am liebsten ein wenig düster und rau, kühl und nicht zu gefällig.
Das passt auch zur Sprache des Buchs, oder?
Auf jeden Fall. Das sich der Titel durchs Buch zieht, mag ich ebenfalls.
Ja, und nicht nur die Sprache – der ganze Inhalt ist rein und weit und rau und kühl – wie das Meer. Die Worte sind wie das Meerwasser – sie kommen langsam, sie kommen schnell und dann kommen sie so heftig und stark, wie eine hohe Welle und schon findest du dich darunter begraben wieder. Auch die Worte von Autorin Sarah Kuttner sind stellenweise sehr salzig und schmecken nach wildem Strudelwasser. Ihre bildhafte Sprache zeigt uns Lesern Ebbe und Flut. Das du kein Grün magst, ist ja „witzig“– wir sind hier völlig verschiedener Meinung – in Sachen Literatur sprechen wir aber eine Sprache, wie es scheint.
Das Meer – hach, ich liebe es und freue mich auf den diesjährigen Ostseeurlaub. Das Buch hätte ich eigentlich erst dort lesen sollen. Ich habe es drinnen gelesen – und du? Wie sah deine Umgebung – 180° aus?
Ich lebe ja in Hamburg, Wasser ist also allgegenwärtig. Wusstest du, dass Hamburg mehr Brücken als Venedig und Amsterdam zusammen hat? Nun, ich las das Buch oft im Zug auf dem Weg zur Arbeit und habe dabei viel aufs Wasser geschaut, wenn ich am Hafen vorbeikam oder über eine Brücke fuhr. Der Drang, in diesen Momenten aufzuschauen, war wohl noch nie so stark, wie bei diesem Buch. Du hast vermutlich recht, dass man das Buch vielleicht am Meer lesen sollte – aber nicht im Sommer! Es ist kein Buch für Sonnenschein und Hitze.
Welche Stelle im Buch hat dir besonders gefallen? Hast du ein für dich besonderes Zitat markiert?
Ich mochte ihre Annäherung an den vernachlässigten Hund besonders. Die beiden eher beziehungsgestörten Wesen, die auf ihre sehr eigenartige Weise langsam und mit kleinen Rückschlägen zueinanderfinden fand ich besonders eindrücklich. Keine andere Beziehung im Buch zeigt so sehr ihre stetige, wenn auch langsame Weiterentwicklung, ihr Reifen. Der Hund ist abhängig von ihr und doch kann er ihr jederzeit in die Hand beißen – das ist wohl die harte, nackte Wahrheit über die Liebe: Vertraust du ihr zu sehr, beißt sie zu.
Ich muss gestehen, dass ich eigentlich kein Zitatmarkierer bin. Mich interessieren „herausgerissene“ Sätze nicht so sehr wie die Geschichte an sich. Ich mag den Fluss der Sätze, den Rhythmus, der eine Geschichte treibt. Wenn ich alles um mich herum vergesse und voll im Kopfkino bin, nehme ich einzelne Sätze gar nicht als solche wahr. Wie ist es bei dir? Welches Zitat hast du dir markiert?
„Herausgerissen“ – irgendwie hast du da Recht. So habe ich Zitate noch nie betrachtet. Danke für den Denkanstoß. Ich markiere immer und immer wieder. Dabei sind es nicht nur Sätze, die mich besonders beeindrucken und mit dem Buch in Verbindung stehen, sondern auch Sätze, die ich mit mir und meinem Leben verbinde. Die Markierungen kommen ganz spontan und manchmal, wenn ich Jahre später in bestimmten Büchern blättere, erinnere ich mich dadurch an damalige Situationen, Begegnungen etc. Wenn du dir meine Ausgabe von 180° anguckst, findest du, wenn ich mich auf die Schnelle nicht verzählt habe, 20 knallgrüne Postits. (siehe Foto) Wenn du diese Stellen nachliest, wirst du nicht immer verstehen, warum mich gerade die Sätze bewegt haben. Es sind sozusagen meine Lebensweggedanken, Lebenswegempfindungen, die ich während des Lesens hatte.
Um ein Zitat zu nennen, gleich von der ersten Seite, von Seite 11:
„Meine Präsenz fühlt sich an wie ein Kuss von jemandem mit schlechtem Atem, der sich aber gerade eben die Zähne geputzt hat: eine irritierende Nuance unter neutral.“ (Seite 11)
Wie findest du dieses Zitat? Mich haben die Worte beeindruckt. Dieses spielen mit Bildern im Kopf des Lesers. Ich habe innegehalten, mir das Gelesene bildlich vorgestellt und gedacht, dass ich gern ab und an genau solche Sätze schreiben würde. Hattest du auch solche Momente in denen du so dachtest?
Ja, tatsächlich hab ich mich auch recht häufig dabei erwischt, dass ich dachte: Wow, Sarah Kuttner findet Worte für Gefühle, die ich ziemlich gut kenne. Die Sätze könnten von mir stammen. Ich fand sie bisher eher mäßig sympathisch, doch dieses Buch und seine Bilder haben mich ihr doch näher gebracht. Wer solch kraftvolle und stimmige Bilder in sich hat, beeindruckt mehr sehr.
Lass uns über ihre Familie sprechen: Wie sieht du ihre Beziehung zum Vater. Dieser hat ja früh die Familie verlassen und die depressive Mutter mit den beiden kleinen Kindern allein gelassen. Ist er für dich der Böse in der Geschichte oder wird er für dich mit der Zeit greifbarer?
Eine Frage, die man wohl nicht so einfach beantworten kann. Zuviel verraten mag ich auch nicht, aber ich muss sagen, dass er mir natürlich am Anfang total unsympathisch war. Aber so sind wir Menschen – wir bekommen eine Information, die nicht der „Norm“ entspricht und schon fällen wir ein kleines Urteil. Richtig? Ich bin zum Glück kein Trennungskind und kann die Situation nur von außen bewerten. Ob er der Böse ist – er hatte seine Gründe und im Laufe der Geschichte werden diese sichtbar – ich mag es nicht sagen. Greifbarer wird er auf jeden Fall. Auch er ist kein einfacher Charaktertyp, aber ein interessanter, der mich neugierig machte.
Ja, das finde ich auch. Er wird greifbarer und etwas verständlicher. Doch insgesamt finde ich, dass Sarah Kuttner ihre Figuren nicht „erklärt“, alle vielleicht in ihrer Komplexität gar nicht vollends begreifbar machen möchte. Sie gibt Einblicke in deren Seelenleben, doch so wie im richtigen Leben wird man das Gegenüber nie vollkommen verstehen können. Literarisch gesehen finde ich es sehr mutig, die Figuren dem Leser nicht komplett zu offenbaren, sondern ihren ihre eigenen Geheimnisse zu lassen. Vielleicht gibt es auch nicht für jedes Verhalten, für jeden Fehler eine genaue Erklärung. Das gefällt mir unheimlich gut.
Um bei Familie zu bleiben – Jule flieht zu ihrem Bruder Jakob nach England. Ein Ausbruch aus dem Leben – ein Schnitt quer durch den Alltag. In England hat Jule keine Pflichten, sie kifft, sie raucht, sie ist frei und muss sich keinen unangenehmen Worten stellen. Findest du die Flucht feige? Ist kiffen und rauchen die neue Freiheit? Waren dir bestimmte Situationen zu viel oder einfach passend?
An dem vielen Kiffen habe ich mich persönlich etwas gestört – bin ich spießig? Sie entzieht sich eh schon vielen Verantwortlichkeiten, lebt in den Tag hinein. Zu ihrem eher ziellosen Treiben passt kiffen vermutlich ziemlich gut. Es soll wohl eine gewisse Lockerheit und Lässigkeit ausdrücken. Vielleicht eine Form von trotziger, jugendlicher Rebellion, die übrig geblieben ist? Ich persönlich könnte mich nie aus aller Verantwortung so herausstehlen, einfach fliehen und Probleme aussitzen, doch Jule ist authentisch. Ihr Fluchtmechanismus ist tief mit ihrer Kindheit verbunden, sie muss so reagieren, kann gar nicht konkret werden – bei ihrer Familiengeschichte kein Wunder. Ich fand es logisch, wenn auch nicht immer sympathisch, wie sie sich verhalten hat. Doch muss eine Protagonistin immer genauso handeln, wie man es mag oder erwartet?
Nein – eben nicht. Es ist doch gerade für uns Leser schön, wenn eine Protagonistin anders handelt, als erwartet. Das Kiffen gehört zu Jule dazu, das Abhängen auf dem Balkon, das Herumschlendern mit dem Hund – aber alles das ist auch ein Stück große Freiheit – zumindest ab und an und in meiner Gedankenwelt. Einfach mal raus – aber zurückkehren sollte man schon und das in absehbarer Zeit.
Gab es eine Stelle, in der dir ihr Verhalten zu viel wurde?
Vor allem zum Ende des Buches. Da brodelte ihr verdammter Hass immer und immer mehr hoch. Ich hätte sie gern mal angebrüllt und ihr gesagt, dass sie mal die Augen aufmachen soll. Und doch kann ich Jule verstehen…
Vielen Dank für das literatwoische Lagerfeuergespräch, liebe Mareike und Danke fürs Lesen an dich!