„Our house, in the middle of our street“ von Madness krabbelt mir zum rechten Ohr hinein und zum linken hinaus, um gleich wieder umzukehren. Ein hartnäckiger Ohrwurm den ich selbst nach den knapp 240 Seiten „Auerhaus„ von Bov Bjerg noch im Ohr habe und vor mich hinsinge.
Er versprüht Lebenskraft, Mut und viel Freude mit Spaß gepaart. Ich mag das Lied sehr, da es einfach voller Fröhlichkeit ist und in mir den Drang auslöst, auf die Straße zu gehen, raus ins Grüne – Blödsinn machen mit meinen Freunden – Freiheit atmen.
Das ganze Auerhaus riecht nach Freiheit, denn Auerhaus wurde geschaffen, um den Zwängen der Familien, dem Leben allgemein zu entfliehen. Aber der Hauptgrund trägt den Namen Frieder. Er wollte sich mit seinen jungen 18 Jahren das Leben nehmen. Das macht man einfach nicht, erst Recht nicht, wenn man noch Jungfrau ist und das Leben sich mit seinem breiten Teppich voller Möglichkeiten ausstreckt. Mit 18 geht es doch erst richtig los! Oder?
„Ich wollte mich nicht umbringen. Ich wollte bloß nicht mehr leben. Ich glaube, das ist ein Unterschied.“ (Seite 65)
Ausbrechen heißt das Zauberwort und vor allem Frieder aus der Psychatrie herausholen. Sein bester Freund, welcher gleichzeitig Erzähler ist, zieht mit ihm in das alte Haus des Opas. Frieder darf dort wohnen, wenn er nicht allein wohnt. Frieders bester Freund, seine Freundin Vera, und die feine Cäcilia sind sofort dabei und bevor es negative Stimmen gibt, sind alle blitzschnell in ihrem neuen Heim. Ein eigenes Zuhause, eine eigene WG, leben nach eigenen Regeln, grenzenlos. Umhüllt von Freiheit können die vier ihr Glück nicht fassen. Junkie Harry und die gern mit dem Feuer spielende Pauline füllen das Auerhaus auf. Zu sechst lässt es sich leben, wobei jeder sein eigenes Ränzlein voller Probleme trägt.
Aber heißt es nicht – gemeinsam sind wir stark? Gemeinsam können wir alles erreichen?
Die Sechsergruppe organisiert sich weitestgehend selbst und scheut keinesfalls vor verbotenen Dingen. Etwas Gras zum Frühstück, den Einkauf klauend einfahren, Urkundenfälschung – gibt es etwa Grenzen? Ausbrechen heißt das Zauberwort, denn normal ist unbequem. Normal is „Birth – School – Work – Death“. Wer Grenzen zieht, engt sich ein oder ist man nur normal, wenn man Grenzen einhält?
In meinem Ohr dröhnt noch immer der Madness Song und ich sehe Zimmer mit alter Tapete, ein Außenklo, Unabhängigkeit im Sinne von Telefon, Internet und Co. Ich bin zwar erst 30, aber die Freiheit von der Bov Bjerg schreibt, kenne ich nur zu gut. Erst in den letzten Jahren kamen so viele Dinge hinzu, die unser Leben ein wenig anders gestaltet haben, Grenzen die wir uns selbst setzen. Wir haben uns verändert.
Früher sind wir alle zu unseren Freunden gegangen, haben geklingelt, sind zusammen in den Park um dort abzuhängen. Wir haben leer stehende Gebäude unsicher gemacht, sind unerlaubt auf Züge gesprungen, wir haben gezündelt und ab und an von Sachen probiert, die nicht auf dem Nahrunsplan standen. Aber hey, so hat sich Freiheit angefühlt, oder?
Gedanklich bin ich mit den sechs Freunden ins Auerhaus gezogen. Ich habe mir mein Plätzchen gesucht und neben ihnen hergelebt, mir ihre Probleme angehört, mitgefühlt und mich 12 Jahre zurück katapultiert. Dabei konnte ich mich wohl am besten in Protagonistin Pauline hinein versetzen. Alle Männer hingegen, werden wie Frieders bester Freund empfinden. Ihr mustet noch zur Musterung? Ihr wisst, wie sich der Tag angefühlt hat, als ihr an dieser Lebensweggabelung angekommen seid? Altes Leben wird mit einer Entscheidung zum neuen Leben?
Als weibliche Leserin kann ich natürlich die männliche Seite nicht komplett nachvollziehen, damit meine ich gerade die Musterung, aber ich kenne viele Erzählungen, nicht nur die von meinen Eltern und kann mir denken, dass es für viele schwer war, weg zu müssen.
Doch um auf Frieder zurück zu kommen – kann er gerettet werden oder wird er trotz Auerhaus erneut das Ende des Lebens suchen?
„Ich bin satt. I am sad.“ (Seite 61)
Bov Bjerg gibt uns das Gefühl wieder richtig jung zu sein. In kurze Sätze packt er Gedanken, Gespräche, Handlungen – er springt mit seinen gewählten Worten wie ein junger Grashüpfer hin und her. Dennoch verzichtet er dabei nicht auf den Tiefgang, den jugendliche Gedankengänge sind oft kritisch und nicht immer einfach. Die Zeit im Auerhaus ist eine verrückte Zeit, da alle Protagonisten andere Lebensschwerpunkte haben und deren Probleme stellen sich auf, wie die Stacheln vom Igel. Drogen, Homosexualität, Karriere, das Abitur, die Musterung – die Palette ist bunt gemischt und hat viele Reibungspunkte.
Umso mehr ich mich allerdings im Auerhaus einlebte, desto bewusster wurde mir, das die Zeit in der WG endlich ist. Richtige Entspannung kann bei der Themenvielfalt nicht aufkommen, es ist immer etwas los. Was heute so ist, kann morgen schon ganz anders sein. Jeder Tag stand im Zeichen der Ungewissheit, was natürlich nachvollziehbar ist. Aber Träume, auch wenn nur kurze, sind vorhanden.
„Du hast die Augen zu und treibst auf deiner Luftmatratze, ein sanfter Wind weht, und du denkst, geil, jetzt lebe ich für den Rest meines Lebens hier in dieser Lagune in der Südsee. Und dann machst du die Augen auf und merkst, es ist bloß ein Nachmittag am Baggersee, und zack ist er auch schon vorbei.“ (Seite 214)
Auerhaus lesen? Ja oder nein? Diese Frage stellte ich mir. Wem kann ich Auerhaus empfehlen und hat es mir richtig gefallen, mich erfüllt?
Aus meiner Sicht ist es kein Werk für die Jugend der heutigen Zeit. Heute spielen anderen Dinge eine Rolle, das Leben entblättert sich einfach von ganz anderen Seiten. Die Nachvollziehbarkeit ist nicht für jeden vorhanden, was definitiv Fakt ist. Für mich ist es ein Werk für die männlichen Leser, vor allem für Leser die die 80er Jahre aktiv miterlebt haben. Ja, ich glaube die genannte Zielgruppe wird sich wohl am meisten im Werk wieder finden. Zwar konnte ich als weibliche Leserin einige Dinge sehr gut nachempfinden, aber hier spielt wohl auch der eigenen Verrücktheitsgrad eine große Rolle. Trotzdem habe ich noch mehr erwartet. Wobei – vielleicht nicht mehr, sondern mehr Handlungsumfang, mehr Erschütterung, mehr heiße Tropfen auf den Erzählstein.
Hört ihr den Madness-Song immer noch? Dann solltet ihr eure Koffer schnappen und den Ausflug ins Auerhaus wagen. Schmeißt vorher eure Telefone weg, zerstrubbelt euch die Haare und fühlt euch jung und frei. Macht Unsinn – aber richtig!
P.S. Das Cover vom Roman finde ich total genial. Ich mag den schlicht-verspielten Retro-Style absolut. Mehr davon!