Manchmal braucht es einfach eine Veränderung. Da lässt man Dresden hinter sich und reist kurzerhand nach Brooklyn. Das klingt gut oder? Ich bin allerdings nur gedanklich gereist, aber das tat sehr gut. Manchmal braucht es einfach ein Buch, was da ist und sich ganz ruhig und gemütlich verhält und somit einlädt, genau dann einzutauchen, wenn man einen Ruhepohl sucht. Das alles bietet der Roman von Betty Smith (Insel). Er krallt nicht, er beißt nicht, er ist wie eine Decke, die sich um den Leserkörper hüllt.
Wenn ich dir jetzt sage, dass ich 21 Tage lang für die 621 Seiten brauchte, wirst du abwinken und mit dem Kopf schütteln. Warum so lange für ein Buch, auf welches ich mich so verdammt dolle gefreut habe? Es liegt daran, dass das Leben sich so trubelig wie nie gezeigt hat und mal wieder die ein oder andere Überraschung parat hatte. Es fehlte an Lesezeit und doch hätte kein anderes Buch so gut an meiner Seite verweilen können. Atempausen hat es mir gegönnt, mich immer sofort dort abgeholt wo ich aufgehört habe und es war, als ob ich nie pausiert habe. Klingt nach Lesebalsam und das ist es auch.
Brooklyn 1912
Wenn du Francie Nolan (ich mag den Namen total) triffst, wirst du merken, was ich meine. Obwohl sie zu Beginn kaum Zeit für mich hatte, habe ich zwischen uns schon Freundschaft gefühlt. Sie ist einfach eine Herzensperson, die in armen Verhältnissen lebt und sich die Pennies hart mit Trödel verdienen muss. Ihre Eltern schleppen sich mit schlecht bezahlten Jobs durch das Leben und Francie und Bruder Neeley müssen eben helfen. Francies Traum ist es, Schriftstellerin zu sein und sie liebt es zu lesen, vor allem am Fenster bei der Feuerleiter, um die sich mitten in Brooklyn ein Baum rankt. Dieses Gefühl alleine ist pures Glück, pures Lebensreichtum. Kennst du das Gefühl? Ein Buch, eine wundervolle Umgebung, die Realität ausgeschaltet?
„Wir sind einander zu ähnlich, um uns zu verstehen, weil wir uns nicht mal selbst verstehen.“ (Seite 490)
Doch auch Francie muss auftauchen und sich dem Leben stellen und wenn sie eins kann, dann das. Sie ist ein selbständiges, wissbegieriges und vor allem ehrgeiziges Mädchen. Sie macht vor keiner Türe halt, auch wenn sie noch so sehr klemmt und das macht sie so sympathisch. Natürlich ist es hart, andere schlecht über sich reden zu hören, doch Francie hält an ihrem Traum und an ihrem Lebensweg fest, sucht sich sogar eine andere Schule, um mehr Bildung zu erfahren. Ihr Vater trinkt, ihre Mutter versucht alle Fäden in der trostlosen Umgebung beieinander zu halten. Willkommen in Brooklyn im Jahr 1912.
Generationsroman
Die ganze Zeit überlege ich, welches Buch ein wenig mit Betty Smiths Roman zu vergleichen ist. Tatsächlich handelt es sich hier um einen Klassiker, der sich aber so liest, als wurde er erst vor kurzer Zeit verfasst. Es ist ein Wohlfühlbuch, ein Generationsbuch und zwischen den Seiten fühlt man sich einfach geborgen, auch wenn in den 6 Jahren nicht wahnsinnig viel passiert. Wir leben an Francies Seite und lernen Charaktere kennen, die uns nicht nur schmunzeln, aber auch nicht verzweifeln lassen. Wir treiben durch die Seiten.
„Sag die Wahrheit und schreib die Geschichte.“ (Seite 253)
Jede Menge Markierungen habe ich vorgenommen, denn es gibt so wundervolle Sätze im Roman von Betty Smith zu finden. Doch nicht nur die Zeit an Francies Seite macht den Roman so besonders. Es sind die Zwischentöne, die anderen Charaktere aus ihrem Umfeld und es sind die Sprünge in die Vergangenheit. Wir haben nicht nur an der Geschichte ihrer Eltern teil. Wir erfahren Glück, hoffen und ja, wir bangen auch, aber durchgehend geht es uns gut. Das Buch geht ans Herz, ist mehr entspannend als fordernd und dennoch hat es Anspruch. Es ist einfach rund und verlangt nach keinem besonderen Lesetyp. Francie wartet einfach auf DICH!
„Es musste ja dunkle und trübe Gewässer geben, damit die Sonne einen Hintergrund für ihre strahlende Herrlichkeit hatte.“ (Seite 210)
Und jetzt setze dich am besten unter einen Baum und lies dich zu Leserin Francie nach Brooklyn und lass dir von ihr das Leben zeigen. Du wirst mit einem Lächeln auf dem Gesicht und leicht beschwingt zurück kehren. Glaub mir.
„Hier in Brooklyn ist es mysteriös. Es ist wie – ja – wie ein Traum. Die Häuser und Straßen wirken unwirklich. Auch die Leute.“ (Seite 515)