Schon seit dem Sommer umkreist mich der Habicht. Er war ständig in meiner Nähe, fast hätte er mich berührt und doch sollte unsere Begegnung erst nach Weihnachten stattfinden. Was lange währt wird gut und der Habicht ist einfach nicht nur gut, sondern grandios. Ja – ich schwärme und wie ich schwärme.
„H wie Habicht„ (Ullstein Buchverlage) von Helen Macdonald war das letzte und wohl auch beste Buch, welches ich im Jahr 2015 gelesen habe. Es hat mich emotional gegriffen und mir eine Lesezeit beschert, die ich nicht vergessen werde.
Aber warum nur?
„Das Heilmittel für Einsamkeit ist das Alleinsein.“ (Seite 50)
Eine Freundin und Bloggerkollegin meinte zu mir, dass sie bisher nicht wirklich vom Werk überzeugt ist und sich nicht traut es zu lesen, obwohl es schon seit langer Zeit bei ihr im Regal wohnt. Sie sagte zu mir: „Bisher kam bei mir an: Ein Sachbuch über Falknerei und eine depressive Frau. Ich weiß nicht.“
„Greifvögel kann man nicht bestrafen. Sie würden eher sterben, als sich zu unterwerfen.“ (Seite 116)
Wir ihr vielleicht schon gemerkt habt, sind die Zitate sehr tiefgründig und laden zum Nachdenken und zum Verweilen ein, obwohl sie recht kurz sind. Mich haben die Sätze gepackt und immer tiefer und tiefer ins Werk gezogen. Der Habicht hat sich von Anfang an auf mich gestürzt. Dabei mag ich überhaupt keine Vögel, falls ich das noch nicht erwähnte, zumindest als Haustiere. Vögel finde ich sogar regelrecht doof, wenn ich das mal so sagen darf. Einzig faszinierend finde ich den Mäusebussard.
Mäusebussarde sehe ich ständig, denn diese sitzen oft auf den Zaunstangen an der Autobahn und halten auf den angrenzenden Feldern nach Mäusen Ausschau. Die Tiere beeindrucken mich einfach. Ich weiß nicht wieso, aber ich glaube, es hat mit deren Größe zu tun und der erhabenen Gestalt. Mit regelrecht geschwellter Brust sitzen die geflügelten Jäger da und warten auf ihre Beute. Beeindruckend – ich bin immer und immer wieder fasziniert und halte nach Mäusebussarden Ausschau.
Ausschau habe ich auch nach diesem Werk gehalten und dann habe ich mit jedem einzelnen Wort meinen Habicht-Lesehunger gestillt.
„Einen Greifvogel freit zu fliegen ist immer mit Ängsten verbunden, denn dabei werden die Verbindungen auf die Probe gestellt. Und es ist noch schwieriger, wenn man das Vertrauen in die Welt verloren hat und das Herz im eigenen Leib zu Asche geworden ist.“ (Seite 219)
„Sich zu verlieben ist eine verheerende Erfahrung, außer man verliebt sich in eine Landschaft.“ (Seite 59)
Helens Vater ist tot.
Helen zieht sich aus dem Leben zurück. Helen verbündet sich mit der Natur. Helen will einen Habicht abrichten. Helen trifft auf Habicht Mabel und es beginnt ein Jahr voller Spannung – Enttäuschung – Mut – Wut – Angst – Glück – ein Jahr voller Leben…
Eine ganz einfache Geschichte und doch so viel mehr, denn dieser Roman ist mitnichten ein Sachbuch. Dieser Roman ist mit keinem anderen Roman vergleichbar, zumindest für mich bis zum heutigen Tag. Er ist brilliant, er ist groß, er ist voller Gefühl. Während ich diese Worte tippe, läuft mir schon wieder ein Gänsehautschauer über den Rücken. Jene Gänsehaut von der ich im Buch ständig überfallen wurde. Eine Gänsehaut aus Angst, eine Gänsehaut vor Glück – eine Gänsehaut aus glücklicher Angst – eine Gänsehaut aus ängstlichem Glück.
„Wenn einem das Herz bricht, dann flieht man. Manchmal läuft man allerdings nicht einfach weg, sondern vor lauter Hilflosigkeit stattdessen auf etwas zu.“ (Seite 68)
Helen Macdonald ist nicht depressiv. Helen ist traurig und wandert an der Kante eines emotionalen Abgrundes entlang, denn ihr Vater ist gestorben. Sie leidet, sie trauert, aber sie ist nicht depressiv. Jeder Mensch muss trauern und den Tod verarbeiten, gerade wenn es ein naher Angehöriger ist. Doch Helen versucht ihre Trauer zu wandeln und zwar in einen Lebenstraum, der sie unter anderem mit ihrem Vater verbindet. Sie ist fasziniert von Greifvögeln, der Falknerei und von einem Buch über ebendiese, welches Autor T. H. White verfasst hat und den Titel „The Goshawk„ trägt. Dieses Buch wird für sie zum Handbuch, zum Lebensbuch und wird sie auf ewig mit ihrem Habicht Mabel verbinden…
„Dieser kleine Ort der Ungewissheit ist ein seltsamer Ort. Du fühlst dich sicher, gerade weil du dich komplett ausgeliefert hast. Es ist wie ein Rausch, in dem du dich verlierst. Und du willst ihn wieder und wieder erleben.“ (Seite 243)
Die Geschichte von Helen und ihrem Habicht Mabel ist einfach atemberaubend. Anders kann ich es kaum beschreiben. Der Roman liest sich wie ein Thriller, er ist packend und emotional unberechenbar – genau wie ein Greifvogel. Für mich durch und durch ein Meisterwerk, gerade weil der Inhalt nicht nur eine Geschichte ist, sondern Helens Leben, Helens Gefühle, Helens Ängste und Helens Habicht-Lebenswerk. Ich habe mich völlig in ihre Welt fallen lassen und wahnsinnig viel über Habichte gelernt. Jeder Freiflug wurde zum Abenteuer, erzeugte Schweißausbrüche und schürte die Hoffnung zugleich. Ich bin nur so durch die Seiten gejagt. Langsames Lesen war unmöglich. Spannung – Freiheit…
„Wie kann man etwas lieben, wie kann man für seinen Schutz kämpfen, wenn alles, was dieses etwas bedeutet, Verlust ist?“ (Seite 248)
Die Schilderungen im Werk haben sich in meine Leserhaut gegraben, mich von Anfang an mitgerissen und die Gefühle haben mich komplett eingehüllt. Dies sage ich – eine Leserin die keine Vögel mag, selten Biografien liest, Sachbücher umgeht und größtenteils in anderen Genres unterwegs ist.
Ja – dies sage ich.
Lasst euch von „H wie Habicht“ gefangen nehmen. Es wird nicht lange dauern und ihr werdet der Schreibe von Helen Macdonald nicht widerstehen können. Sie wird euch mit ihren Worten um den Finger wickeln und euch schwer beeindrucken.
Dieses Buch ist ein absolutes Highlight, wie ich finde – wie nicht nur ich finde, denn schaut euch mal auf der Verlagsseite um. Dort gibt es neben vielen positiven Stimmen auch ein Interview mit der Autorin, welches ich euch nur ans Herz legen kann.
Hat dich der Habicht schon geholt?