Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt

Singt!

Ich habe weder gesungen, noch habe ich mich richtig lebendig oder richtig tot gefühlt, als ich diesen Lustkauf tätigte. Ich habe nicht mal intensiv den Klappentext gelesen, sondern die erste Seite und was soll ich sagen, das Buch hatte mich gleich. Meine Gemütslage und die Worte von Jesmyn Ward verstanden sich sofort – etwas negativ, etwas dunkel, düster und voller Ungewissheit. Ich nahm es einfach mit und lies mich zwischen die Seiten fallen.

Ich lese gern extrem, wie du weißt, die thematische Richtung bestimmt das Buch. Also rechnete ich gleich damit, mit den Protagonisten high zu sein und beschissene Situationen zu meistern und vielleicht sogar dabei umzukommen. In meinem Fall aber alles lesend, versteht sich. Doch zuerst habe ich mit Jojo und seinem Großvater Pop eine Ziege geschlachtet und gehäutet. Großmutter Mam liegt derweil in ihrem Krankenbett und muss sich dem Krebs geschlagen geben. Seine Mutter? Sein Vater? Fragt nicht, denn Jojo wächst nicht in einer behüteten Familie auf. Sein Vater Michael ist weiß, sitzt allerdings im Knast, genauer im stattlichen Zuchthaus namens „Parchment-Farm“. Seine Mutter Leonie ist schwarz, arbeitet in einer Bar und sie ist gern high. Ihr Bruder ist tot, doch wenn sie sich den Drogen widmet, erscheint er oft vor ihr. Jojo ist kein Einzelkind – Schwester Kayla isst gern und weint viel.

#Drogen #ZerbrocheneFamilie #Rasissmus

Ja, die Trostlosigkeit tropft aus meinen Worten und doch gibt es Hoffnung. Ein Roadtrip ist selten zu verachten und er darf sich auch fast komplett über die 300 Seiten strecken, wenn er gut ist. Leonie darf ihren Mann Michael abholen und die ebenfalls gern unter Drogen stehende Misty ist mit von der Partie. Auf der Rückbank beschützt Jojo seine Schwester. Er verkörpert für Kayla Mutter und Vater. Liebe? Geborgenheit? Die ist nur allzuselten spürbar, wenn überhaupt. Dafür gibt es gewaltvolle Vergangenheit und im Grunde auch Gegenwart, es ist kalt, düster und unmelodisch. Visionen sind auf der Tagesordnung, genau wie die zwei toten Männer.

Wer also immer noch glaubt, es könnte bei dem Titel „Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt“ um Volksmusikaten gehen, irrt. Die Hashtags lauten: #Drogen. #ZerbrocheneFamilie & #Rasissmus.

Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt

Ich habe mir beim Lesen schon ein wenig das eigene Genick mit diesem Lustkauf gebrochen und doch wollte ich alles wissen und legte den Roman (Verlag Antje Kunstmann) nicht weg. Gequält habe ich mich wohl etwas am Schluss, die umfassende Handlung blieb aus, aber es wurde extrem und unterschwellig wühlte sich der Inhalt in mein Herz.

„Kummer ist wie zu schnell heruntergeschlucktes Essen, das im Hals stecken bleibt und das Atmen fast unmöglich macht.“ (Seite 284)

Jojo hat mich am meisten berührt, Kayla tut mir immer noch leid und hat dennoch wahnsinnig genervt, Mam hat mir Tränen in die Augen getrieben, Pop ist ein Herzmensch, Michael ist einfach nur dumm, genau wie Misty und Leonie hätte ich gern mal aufgezeigt, wie gut es sie haben kann und dabei etwas geschüttelt. Richie und Given sind und bleiben tot.

Jesmyn Ward lässt Leonie, Jojo und Richie in ihren Kapiteln erzählen. Doch neben Vergangenheit und Gegenwart rutschen diese in Visionen ab und werden nicht nur schlimm, sondern mystisch, fantastisch und schließlich nicht mehr greifbar. Ich habe schwer über einige Stellen nachgedacht und ich habe wohl auch einige Wortfäden aus den Händen verloren. Das Buch fesselte mich, doch nach und nach löste sich die gefühlt enge Bindung und ich entglitt, konnte der literarischen Forderung nicht mehr entsprechen.

Nicht fesselnd, aber nachhaltig

Und dann diese Sprache: „…und ihre Stimme hatte was von einer Angelrute, die so schwach ausgeworfen wird, dass der Wind sei einfängt. Der Bleihaken sank trotzdem in meine Brust,…“ (Seite 76) oder „Ich hole das Tütchen heraus, und Michael sieht aus, als wollte er kehrtmachen und weglaufen – und dann so, als hätte ich sein Lieblingsgericht, Makkaroni mit Käse, in der Hand, und er möchte essen.“ (Seite 161)

Jetzt, nachdem ich all das geschrieben habe, steht die Frage noch immer im Raum: Empfehlung? Ich gebe sie an dich weiter und lausche deiner Antwort. Sing mit oder lass die Finger davon…

Eure
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