Carry Ulreich sagt selbst über sich, dass sie die Anne Frank mit Happy End ist. Sie hat überlebt, sie lebt heute in Tel Aviv und du kannst lesen, was sie erlebt hat. Ich habe gespannt zu ihrem Tagebuch gegriffen und machte mich auf eine zweite Anne Frank gefasst, zum Glück in dem Fall nicht mit einem tödlichen Ende. Gegen das Vergessen zu lesen ist wichtig und ist vor allem nie verkehrt. Ich möchte dir aus diesem Grund heute dieses Sachbuch ans Herz legen.
Es ist immer ein komisches Gefühl, in einem Tagebuch zu lesen. Man kommt sich immer so neugierig vor, da spielt es keine Rolle, welches Alter das Tagebuch hat. So empfinde ich zumindestens. Den ersten Eintrag hat Carry Ulreich am 17. Dezember 1941 vorgenommen. Da lebte sie mit ihrer Familie noch in Rotterdam, besuchte eine jüdische Schule und war gerade mal junge 15 Jahre. Kannst du dich an die Zeit erinnern, als du 15 warst? Es war doch herrlich – das Leben war unbeschwert, ich war viel mit Freunden an der frischen Luft und Jungs wurden immer interessanter. Bei Carry sieht das ganz anders aus. Krieg heißt das große Thema, die Angst ist vorherrschend und seit einigen Tagen werden jüdische Geschäfte geschlossen. Es sollen Fabriken folgen und schließlich wird es Pflicht, den gelben Stern sichtbar zu tragen, an den Sachen festzunähen. Die Juden werden immer mehr bedrängt, bedroht und nach und nach in Arbeitslager gebracht. Rotterdam ist nicht mehr sicher, auch Carry und ihre Familie sind in Gefahr und versuchen unterzutauchen…
Anne Frank / Carry Ulreich
Sie überlebt, anders als Anne Frank aus Amsterdam. Doch ihr Weg ist ein steiniger und jeder Tagebucheintrag ist emotional und doch so voller Mut und Kraft. Respekt, Carry Ulreich – ob ich so mutig gewesen wäre und trotz der ganzen Dunkelheit an jedem Tagesende noch ein Licht gesehen hätte, eher nicht. „Nachts träum ich von Frieden“ (Aufbau) ist erschütternd, beklemmend und beeindruckend zugleich und ich bin froh, dieses Tagebuch zu kennen. Wir gehen mit Carry nicht nur bis zum Tag der Befreiung, sondern erleben auch die Nachkriegszeit.
Ich möchte dieses Tagebuch keineswegs mit Anne Frank vergleichen. Aber gerade auf den ersten Seiten merken wir Leser, dass Carry mit ihren 15 Jahre noch nicht so fest im Leben verankert, noch nicht so reif und sprachlich so begabt ist, wie Anne. Gerade dadurch finden wir noch schneller einen Bezug zu ihr und lächeln über einige Sätze. Bevor ich allerdings im Tagebuch gelesen und mich an die Seite von Carry begeben habe, laß ich die Einleitung von Historiker Bart Wallet. Er setzt mit seinen Worten den Grundstein für den Einstieg ins Tagebuch. Wir erfahren mehr über die Bedeutung des Tagebuches, über die Geschichte des Judenverfolgung in Rotterdam und er erzählt uns von seiner ersten Begegnung mit der 89-jährigen Carry.
Tagebuch 1941 bis 1945
Es ist schön, dass die Fehler aus dem Tagebuch nicht korrigiert wurden und die Länge der Satzgefüge in der Regel beibehalten wurden und doch liest es sich ab und an holprig, weil die Übersetzerin die Hinzufügungen gekennzeichnet hat. Doch diese sind eben wichtig, allerdings eher mehr am Anfang zu finden und nach wenigen Seiten nimmt man diese kaum noch wahr.
Sehr spannend ist das Interview mit Carry Ulreich, welches im September 2017 geführt wurde. Zudem sind Fotografien abgedruckt, auf denen Carry und ihre Familie, wie auch weitere wichtige Menschen in ihrem Leben, zu sehen sind. Epilog und Hintergründe zum Tagebuch runden dieses Werk ab und natürlich bleibt das schöne Gefühl, dass Gefühl zu wissen, dass Carry Ulreich immer noch am Leben ist.
Das Tagebuch von Carry, der Anne Frank von Rotterdam, bewegt, wühlt auf und bringt ein weiteres Schicksal der damaligen Zeit in unsere Gegenwart.