Ein bedrückendes Gefühl stellt sich beim Lesen der ersten Seiten bei mir ein. Diese handeln von Alice Della Rocca. Sie hasst die Skischule, aber ihr Vater möchte, dass sie dahin geht. Jeden Tag hat sie Angst auf den Berg hinauf zu fahren. Ihre Angst geht soweit, dass sie ihre Blase nicht kontrollieren kann und sich heimlich von der Gruppe abgrenzt, um das Unaufhaltbare heimlich zu verrichten. Doch an diesem Tag ist es schlimmer als sonst und Alice mag nicht zur Gruppe zurückkehren. Sie versucht alleine den Hang hinunter zu fahren, doch die schlechte Sicht und die verbotene einsame Skipiste bringen sie zum Stürzen.
Wie ein Engel im Schnee bleibt Alice liegen. Dieser Tag verändert Alice und das Verhältnis zu ihrem Vater, indem sie das Vertrauen verliert und sich in ihre Einsamkeit zurückzieht.
Mattia hat eine Zwillingsschwester, die allerdings das komplette Gegenteil von ihm ist. Er ist schlau und entwickelt sich stetig weiter, seine Schwester hat eine Behinderung und kann sich nicht artikulieren. Beide sind dadurch zu Außenseitern geworden und werden von den Mitschülern eher gemieden. Mattia erhält eine Einladung zu einer Geburtstagsfeier, auf die er seine Schwester mitnehmen muss. Obwohl er weiß, dass er nur eingeladen wurde, weil die Eltern des Mitschülers das wollten, geht er hin. Für ihn selbst schon ein schwerer Schritt, das allerdings seine Schwester ihn noch begleiten soll, ist eine zu große Belastung für ihn. Er weiß sich nicht anders zu helfen und lässt sie in einem Park für eine Zeit lang alleine, um sie dann unbemerkt wieder abzuholen. Eine fatale Entscheidung, denn sie ist nicht mehr dort, wo sie bleiben sollte.
Sieben Jahre später treffen sich Alice und Mattia auf einem Gymnasium. Beide scheinen magisch voneinander angezogen zu werden. Beide sind Außenseiter, ihre Mitschüler ignorieren sie oder treiben böse Spiele mit ihnen. Vor allem Alice ist vor ihren angeblichen Freundinnen nicht sicher und wird immer wieder ausgenutzt. Wie zwei Primzahlenzwillinge kommen sich die beiden vor und auch wenn sie nicht allzu viel miteinander reden, ist die Verbindung sehr stark. Keinen anderen als Mattia würde Alice bitten, mit einem Messer ihr Tattoo zu entfernen. Im Gegenzug gibt Mattia ihr seinen innerlichen Schmerz preis und vertraut sich ihr an.
Doch die Schule dauert nicht ewig an und es läuft draus hinaus, dass sich die Wege der beiden trennen. Es fehlt beiden an Mut, sich füreinander zu entscheiden und beide müssen sich der Zukunft stellen. Beide weiterhin einsam, ohne den anderen. Mattia flüchtet sich in die Welt der Zahlen, in der er sich sicher fühlt.
Alice flüchtet in sich, zieht sich in ihren Körper zurück und geht mit diesem so um, wie sie es weiterhin für richtig hält. Doch diese Einsamkeit kann einige Zeit dauern, aber nicht über Jahre so weiter gehen.
Der italienische Autor Paolo Giordano hat in seinem Buch „Die Einsamkeit der Primzahlen„ (Karl Blessing) zwei sensible Protagonisten geschaffen, die sich lieber Schmerz zufügen als in eine vielleicht unbeschwerte Zukunft zu starten. Dem Leser nimmt er durch seine poetisch tiefgreifenden Sätzen und Schilderungen die Schutzhülle und macht ihn nackt. Die Leserseele liegt offen und wird dadurch empfindlich, angreifbar und mit Worten erschüttert. Man taucht in die reale Welt der Außenseiter ein, möchte beide anschreien und in eine Welt führen, die ganz anders ist. Eine Welt, in der es Geborgenheit gibt, in der es Freunde gibt und Menschen, denen man vertrauen und die man lieben kann.
Das Buch ist überzogen mit Traurigkeit, Melancholie und den Traumata der beiden Handelnden. Bis zum Ende halte ich meine ausgestreckten Hände zu beiden hin, bis mir alles schmerzt und ich sie zurückziehen muss. Ich muss das Buch zuklappen, muss beide alleine lassen. Das Ende und die sich etwas in die Länge ziehenden letzten Seite verdauen und mir einen Moment der Pause gönnen, eine Art Einsamkeit finden, in der ich über Alice und Mattia nachdenken kann.
Bewegend. Bedrückend. Beklemmend. Berührend. Besonders.