„Bruder Wolf„ (Fischer Sauerländer) von Carla Maia de Almeida zog gleich meinen Blick auf sich. Ein illustriertes Jugendbuch. Kein Buch für Kinder, sondern für die Jugend und dennoch illustriert. Das gibt es nicht so häufig. Hinzu kam der Zweiworttitel und der erste Satz auf der Coverrückseite: „Der Sommer, in dem alles außer Kontrolle gerät.“
Ich machte mich gefasst, auf eine emotional-spannende und vor allem rasante Lesezeit. Knapp über 170 Seiten in angenehmer Schriftgröße lagen vor mir und ich wollte wissen, was in „Bruder Wolf“ vor sich geht und was in der Nacht am Stausee passiert ist.
Bevor die ersten Worte gelesen werden können, werden wir als Leser von einer Illustration in den Farben schwarz, blau und weiß in ein recht übersichtliches Wohnzimmer geführt. Details geben minimal Aufschluss darüber, was sich gleich abspielen wird.
Bevor ich euch mehr erzähle, lest einfach selbst, was uns auf der ersten Seite erwartet – Buchblättern.
Was sagt ihr? Seid ihr schon im Buch?
Mir ist der Einstieg schwer gefallen. Ich habe keine Ahnung warum, inzwischen schiebe ich es aber auf die Uhrzeit. Ich habe unter der Woche gegen 22 Uhr mit dem Lesen begonnen. Es sollte nur ein erster Eindruck werden. Die Namen machten mir Schwierigkeiten, dennoch las ich weiter. Ich las zu schnell und die Müdigkeit mischte sich zwischen die Zeilen. So lautet meine heutige Erklärung für mein Buchproblem. Trotz allen selbst gelegten Stolpersteinen und den immerwährenden Fragen im Hinterkopf – versteht ein 12-jähriges Kind, um was es geht? Interessiert sich ein Kind für den Inhalt des Buches? Welchem Kind, welchem Jugendlichen würdest du es ans Herz legen? – habe ich es beendet. Mein Gefühl: besonders.
Ich merkte, dass ich dieses Buch es mögen möchte. Ich spürte die Besonderheit, ich spürte die Tiefe und doch suchte ich Rat. Immer und immer wieder nahm ich es zur Hand, schaute mir die Illustrationen an, las einige Seiten erneut und schließlich das ganze Buch.
Richtig erklären kann ich mir nicht, wieso der Funke nicht komplett beim ersten Lesen übergesprungen ist. Es ist unüblich für mich, ein Buch zweimal hintereinander zu lesen. Vor allem dann, wenn ich nicht überzeugt bin. Ich wollte mich richtig überzeugen lassen. Wenn ein Buch so hartnäckig an mir bleibt und ich an ihm, dann musste ich es innerlich bereits lieben. Hab ich beim ersten Lesen zu erwachsen gelesen? Konnte ich mich nicht richtig in einen jungen Leser hinein versetzen? Scheinbar…
Als ich zum zweiten Mal Bolota – Krümel – traf, wusste ich gleich, dass wir uns von nun an sehr nah standen. Bolota ist acht Jahre jung und mit ihrem Vater unterwegs. Ihren Vater nennt sie Schwarzer Elch und sie sind eigentlich nicht unterwegs, sondern auf Expedition. So zumindest sagte es Schwarzer Elch mit tiefer Indianerhäuptlingsstimme zu ihr. Er bringt sie nicht in die neue-alte Wohnung zurück, denn er will mit ihr an den Ort, an den sie hingehören – in ihr Zuhause.
Bolota ist verwirrt, aber sie vertraut Schwarzer Elch. Sie lässt sich auf das Abenteuer ein, auch wenn sie sofort ihre Mutter, ihren älteren Bruder – das Fossil – und ihre recht merkwürdige Schwester – Miss Kitty – vermisst. Schwarzer Elch lügt nie, auch wenn er sich manchmal in den Mann aus Eis verwandelte.
Bolota vertraute, aber sie verstand nicht – nicht mit 8 Jahren. Heute ist Bolota 15 und die Nacht am Stausee ist 7 Jahre her…
Was passiert uns Lesern in diesem Buch? Nach dem ersten Lesen wusste ich, dass es nur einen Menschen gibt, der mir mein Lesen erklären kann, der das letzte emotionale Puzzleteil zwischen Buch und meinem Leseherz setzen kann. Ich schrieb also Arndt von Astrolibrium eine SMS in der ich ihn darum bat, das Buch zur Hand zu nehmen. Mir reichten ein paar Worte von ihm, ein erster Eindruck, er sollte nur die erste Seite lesen…
Wer wechselt schon gern in ein anderes Buch, wenn er tief in dem jetzigen steckt? Arndt konnte nicht, der emotionale Sprung wäre zu groß gewesen. Ich konnte ihn verstehen und doch habe ich nicht locker lassen können. Hartnäckig habe ich seine Absagen aufgegriffen und ihn förmlich ins Buch geschubst. Was dann passierte? Das kann nur er sagen und darum solltet ihr jetzt seinen „Buder Wolf“ kennenlernen. Ein Klick aufs Bild genügt.
Bruder Wolf und Bruder Wolf – ein Buch, zwei Leser – eine literarische Verbundenheit.
Aber MOMENT – das klingt ja alles schön und gut, aber was ist mit den ganzen Fragen vom Anfang des Artikels und wie lautet denn das Fazit?
Carla Maia de Almeida hat pure poetische Kraft in ihre Zeilen gesteckt. Ich habe gemerkt, wie erwachsen ich in diesem Buch gelesen habe. Anstatt kindlich zu fühlen, habe ich mich nicht hinein gleiten lassen, sondern bin eine Betrachterin von außen geblieben. Mein zweites Lesen hat alles verändert. Die bedrohlich und bedrückenden Illustrationen habe ich länger betrachtet und dabei meinen Blick geschärft. Gerade die Farben blau, schwarz und weiß sind so bezeichnend. Das Blau strahlt Ruhe aus und versucht auszugleichen, während die weißen Stellen das bedrohliche Schwarz versuchen zu kompensieren. Jedes Bild erzählt und ergänzt detailliert das Buch.
Die Autorin wird jeden Jugendlichen mit ihrer Erzählperspektive in Buchgefangenschaft nehmen. Sie schreibt sensibel und eindringlich und sorgt dafür, dass Bolota ihre Hand gleich zu Beginn ausstreckt und die Leserin, den Leser, in ihre Welt mitnimmt. In eine Welt in der erst noch alles gut ist und dann nach und nach zerbricht.
Auf den blauen Seiten erfahren wir mehr über ihre Familie und über deren Entwicklung und Erlebnisse. Auf den weißen Seiten befinden wir uns auf der Fahrt ins neue Leben – eine Reise aus Träumen und Schäumen – eine Reise, an deren Ende Bruder Wolf wartet…
12-jährige träumen gern, sie stehen an der Türschwelle ins große Leben mit eigenen Entscheidungen und beginnen die ersten Weichen zu stellen. Und doch wurden ebenso in den ersten Lebensjahren Weichen gestellt, die formen, verändern und prägen.
Eingefleischte Leser werden tief in dem Buch versinken und Welten öffnen können. „Bruder Wolf“ ist besonders, es ist anders und es möchte hinterher nicht zur Seite gelegt, sondern inhaltlich aufgegriffen und besprochen werden.
Liebe Bini,
deine Worte fließen wieder einmal in meinen Kopf, streicheln mich und entführen mich in deine Welt der Worte, Es ist immer wieder schön, deine Rezensionen zu lesen. Sie sind etwas besonderes, so wie dieses Buch es zu sein scheint. ich bin nicht sicher, ob es eine Lektüre für mich wäre, doch allein schon die Art, wie du deine Besprechung formuliert hast, macht mich neugierig. Danke dafür.
Ein schönes Wochenende, einen guten Wochenstart und liebe Grüße
Sandra ♥