In unserem Bericht zu „Raum“ suchten wir einen Leser der sich tief in „Raum“ fallen lassen will und Claudi-Marina hat es getan, sie hat nach uns beiden den „Raum“ lesend betreten. Sie hat uns nun ihre Raumansichten geschickt, die wir euch an dieser Stelle nicht vorenthalten wollen.
Jack ist fünf. Er lebt in Raum. Zusammen mit seiner Ma. 12 Quadratmeter Realität. Denn echt ist nur in Raum. Draußen – das gibt es nicht. Nicht für Jack. Sein ganzes Leben hat er in Raum verbracht. Er sieht gern Cartoons im Fernsehen, das sind seine Freunde – aber echt sind die nicht. Echt ist nur in Raum. In Raum isst er und spielt er und in Raum versteckt er sich nachts in Schrank – wenn Old Nick kommt. Denn Old Nick ist ein böser Mann.
Dann kommt der Tag, an dem ihm seine Ma erklärt, dass es draußen gibt. In echt. Und dass sie genau da hinwollen. Nach draußen. Weg von Raum, weg von Schrank, weg von Old Nick.
Emma Donoghues Roman wird aus Jacks Sicht erzählt. Aus der Sicht eines fünfjährigen, der in seinem ganzen Leben noch nicht barfuß über eine nasse Wiese gelaufen ist. Eine schockierende Vorstellung. Aber zum heulen? Nein. Die Tränen bleiben mir im Hals stecken – es ist einfach zu schockierend. Und trotzdem gibt es auch fröhliche Momente. Aber drüber lachen? Nein. Auch das Lachen bleibt stecken. Es ist einfach nur verstörend. Fünf Jahre – ein ganzes Leben, eine ganze Realität auf 12 Quadratmetern.
Doch was ist mit Jacks Ma? Was ist mit ihren Gefühlen, ihren Ängsten und Sorgen? Ganz allein hat sie sich um Jack gekümmert, dass er isst und wächst und sich immer die Zähne putzt, dass er sauber und gesund ist. Ganz alleine auf 12 Quadratmetern. Wenn man weiß, dass da draußen unendliche viele Quadratmeter warten. Unendlich viele Möglichkeiten.
Wenn man ganz alleine verantwortlich ist, wenn die ganze Welt einem auf den Schultern liegt, dann muss man stark sein. Jacks Ma ist stark. Auch wenn ihr alles manchmal zu viel wird und sie am liebsten den ganzen Tag im Bett verbringen würde, wenn sie Zahnschmerzen hat, wenn ihr bewusst wird, dass Jack das einzige ist, was sie hat. Wenn ihr bewusst wird, dass ihr altes Leben da draußen ist, außerhalb von Raum. Ist es noch da? Oder ist es wie die Comicfiguren im Fernseher – es flackert kurz auf und verschwindet dann wieder – denn echt ist nur in Raum.
Wie ist das, wenn man immer alleine ist? Wenn man niemanden hat, mit dem man sich auf Augenhöhe unterhalten kann? Wenn man dabei zusehen kann, wie der eigene Intellekt langsam versauert? Kaum vorstellbar. Und doch ist es die Realität von Jacks Ma. Die Realität von Millionen von Frauen, die alleine sind. Auch wenn ihre Realität mehr als 12 Quadratmeter umfasst.
Danke an Claudia-Marina für die tiefgehende Besprechung zu „Raum„.