Literatwo hat sich auf die Fahne geschrieben, neben den bunten Büchern der guten Unterhaltung auch jene Werke ins Licht des Betrachters zu rücken, deren Themen aus einer ganz besonders dunklen Welt zu stammen scheinen. Verfolgung aus religiösen oder politischen Gründen, Genozid, Vertreibung und Deportation beschäftigen Binea und mich in hohem Maße. Besonders dann, wenn es sich in diesen Büchern um die Erlebnisse von Kindern oder Jugendlichen handelt.
Lernen können wir aus der Vergangenheit. Erste Zeichen von Fehlentwicklungen richtig deuten und im Schulterschluss mit den Opfern von einst dafür Sorge tragen, das wir den Tätern von heute mit aller Gegenwehr begegnen, die uns zur Verfügung steht. Jedes Buch über dises Themen ist ein lauter Appell an unsere Zivilcourage – ein Schrei nach Gerechtigkeit aus längst vergangener Zeit.
Verbunden sind diese Bücher meist sehr eindringlich durch ein Zeichen für den Verlust von Freiheit und Identität. Stacheldraht – Synonym für „Wegsperren“, „Absondern“ und „Entsetzen“.
„Und in mir der unbesiegbare Sommer„ war eine unserer besonderen Entdeckungen des letzen Jahres – Deportation im kommunistischen Regime – Vertreibung aus der Sicht eines jungen Mädchens. Und eine Geschichte von Hoffnung – einer Fähigkeit, die der Mensch auch im Angesicht des Todes nicht zu verlieren scheint.
„Der Mann der ins KZ einbrach„ zeigte für uns deutlich, was eine Stiftung gegen das Vergessen, wie die SHOA-Foundation auch heute noch zu bewegen vermag: Lebenskreise zu schließen und Lebensfragen zu beantworten. Auch 65 Jahre nach dem Ende des Zeiten Weltkrieges sind so viele Fragen unbeantwortet und so viele Schicksale ungeklärt.
Dieses Thema wird uns nicht loslassen und Literatwo ist unser Platz, Stoppschilder aufzustellen um eine Wiederholung der Geschichte zu verhindern. Hier findet ihr unsere Plädoyers gegen die Sinnlosigkeit der ideologischen Diskriminierung.
Und wieder stehen wir vor einem jener Zäune aus Stacheldraht. Auschwitz. Außenlager Birkenau. Eines der Vernichtungslager des NAZI-Regimes, in dem ungezählte Lebenswege ausgelöscht wurden. Wieder stehen wir vor jenem Stacheldraht, der das Leben der Betroffenen mit einem radikalen Schnitt in den tödlichen Mahlstrom der Zermürbung und Auslöschung zieht. Vernichtungslager… Vergasung, Krematorium, Todeslager und eine weitere Facette des Grauens. Ein Todesengel namens Josef Mengele. Ein Arzt.
Er wartet an der Rampe. Er wartet auf die Zugladungen der Deportierten. Er wartet, um Entscheidungen zu treffen, Gruppen einzuteilen und zu selektieren. Er schickt Menschen jeden Alters ohne Umweg in die Fabrikanlagen des Todes – Gaskammern und Krematorien. Arbeitsfähige schickt er ins Lager – mit dem einzigen Ziel: Tod durch Arbeit und Auszehrung. Und er wartet gierig weiter.
Auf Zwillinge! Versuchsopfer für seine medizinischen Experimente. Zwillingskinder… Er wartet.
Dann erreicht er schließlich sein Ziel. Der Zug aus dem rumänischen Siebenbürgen und aus Ungarn. Beladen mit tausenden Juden – eingepfercht in Viehwaggons und unwissend, dass sie gerade die Endstation ihrer Reise erreicht haben. Die meisten von ihnen nur Minuten entfernt vom Tod.
Unter ihnen: Zwillinge. Eva und Miriam Mozes, eineiig, gleich angezogen und 10 Jahre alt. Innerhalb weniger Minuten werden sie von Vater, Mutter und Geschwistern getrennt. Innerhalb von Minuten werden sie zu Waisenkindern und innerhalb von wenigen Minuten werden sie ausgewählt: vom Todesengel von Auschwitz… Eine Kindheit endet – das Leiden beginnt…
Niemand hätte davon erzählen dürfen. Keine Zeugen – das war das Ziel für die bestialische Vorgehensweise von „Dr.“ Mengele. Seine Versuche an Zwillingen sollten die Nazi-Ideologie weiter bringen. Perfektes Leben wollte er züchten, neue Medikamente testen und dafür brauchte er das perfekte Vergleichsgut. Zwillinge. Die Torturen rauben den Mädchen alle Kräfte. Tage schleppen sich dahin – Blutproben und Injektionen – immer wiederkehrend… Laborzwillinge… Niemand hätte das überleben dürfen.
Eva und Miriam Mozes haben überlebt. Miriam schwer geschädigt von Laborversuchen – Nieren, die das Wachstum verweigerten. Beide ausgezehrt und scheinbar gebrochen, heimatlos und ohne Familie. Die Befreiung des Konzentrationslagers wirft die Mädchen in ein Leben zurück, das sie nicht mehr wiedererkennen. Miriam stirbt 1993 an den Folgen der Experimente. Eva Mozes Kor schreibt gegen das Vergessen, reist, klärt auf und erzählt uns die Geschichte von zwei Mädchen in Auschwitz. Ihr aktuelles Buch „Ich habe den Todesengel überlebt“ erscheint am 09. Januar 2012.
Eva Mozes Kor hat dabei eine klare Botschaft: „Nicht vergessen und doch vergeben können.“ Diese Botschaft ist ihr Lebenswerk – geboren in einem Todeslager und der Geburtshelfer war der Todesengel persönlich!
Eva Mozes Kor erzählt und der Jugendbuchautorin Lisa Rojany Bucceri gelingt es, die Erlebnisse von einst in eine Geschichte zu formen, die nicht nur durch ihren Inhalt trägt. Wohlstrukturiert und erfreulich leicht verständlich, bildhaft und emotional in der trotzdem fühlbaren Brutalität der Ereignisse, spricht sie eine eigene Sprache. Auch jugendliche Leser können jeden Schritt erfühlen und in einem hilfreichen Glossar am Ende des Buches Erklärungen für Begriffe des jüdischen Glaubens und der NAZI-Sprache finden.
Man sollte dieser Botschaft lauschen. Die Kunst des Vergebens ist eine hohe Kunst. Nicht jeder Betroffene beherrscht sie. Eva Mozes Kor hat aus der Vergebung eigene Kraft geschöpft. Sie hat ein kleines Museum gegründet, bereist die Welt und erzählt jedem, der ihr zuhören möchte. Ihre Stimme ist gewaltig. Sie überwindet die Zeit und in ihren Erzählungen sorgt sie dafür, dass so manches Sterben nicht sinnlos war. Miriam lebt weiter durch sie… ein großes Verdienst dieses Buches.
Ebenso groß, wie die Tatsache, dass wir Leser an keiner Stelle der Geschichte einen erhobenen Zeigefinger empfinden – die heutige Generation nimmt Eva in die Pflicht – eine Schuld schreibt sie ihr nicht zu.
Wir berichten weiter – wir bleiben dran an diesen besonderen Geschichten. Zum Beispiel werden wir über Solly Ganor schreiben, der das KZ Dachau überlebte und mehrere Jahrzehnte keine Worte für das Grauen fand. Nur im Schlaf sprach er sich seine Albträume von der Seele. Und von Lili Jacob werden wir berichten. Ebenfalls nach Auschwitz deportiert und dort von den Siegern des Krieges befreit fand sie ein Fotoalbum, das etwas zeigt, was niemals hätte dokumentiert werden dürfen. Die Ankunft ihres Transportes und die Selektion an der Rampe. Letzte Aufnahmen von ihrer Familie… Und wir werden über Waldtraud Lewin schreiben, die mit ihrem Werk „Die Juden – Geschichte und Geschichten“ im Jahr 2012 eine mehrteilige Reihe beginnt. Wir sind sehr gespannt.
Bleibt uns auch bei diesem Thema treu… Literatwo
Ein besonderer Nachtrag:
Zu diesem Buch soll es kein Gewinnspiel geben, sondern wir möchten es gerne (wie zuletzt bei unserem Artikel zum Roman „Raum“) einem Leser oder einer Leserin unseres Blogs zur Verfügung stellen, der/die in der Lage ist, die Geschichte aus einem anderen Blickwinkel zu beleuchten.
Wie wirkt diese Botschaft aus der Vergangenheit auf Zwillinge des 21. Jahrhunderts? Diese Frage interessiert uns sehr.
Wenn du ein Zwilling bist, den Erlebnisbericht von Eva Mozes Kor gerne lesen möchtest und bereit bist, eine Gastrezension für Literatwo zu schreiben, dann kommentiere einfach den Artikel und schicke uns eine EMail an literatwo@aol.de. Mit ein wenig Glück landet das Taschenbuch schon in den nächsten Tagen in deinem Briefkasten und wir sind dann sehr gespannt auf deine Perspektive!
Nachtrag: Wir haben einen Zwilling gefunden und das Buch ist schon bei Lisi aus Österreich angekommen… und sie hat es inzwischen mehr als bewegend besprochen… lesenswert!
Ich habe gerade Tränen in den Augen. Ein Thema, das nicht in Vergessenheit geraten sollte und ein dickes Lob an euch beide, das ihr so offen darüber schreibt und diese Bücher dem Leser näher bringt, um gegen das Vergessen anzukämpfen. Ja, ich bin ein Zwilling und ja, ich möchte das Buch gerne lesen. Aber ich muss gestehen, dass ich darüber wohl keine Rezension verfassen werde, weil es mich bestimmt zu sehr berührt, zu sehr aufwühlt. Alleine der Gedanke, die Vorstellung lässt meine Augen wässrig und meine Finger zittrig werden. Aber ich werde das Buch lesen, für mich.
Nochmals: Großes Lob an euch und macht weiter so!
Herzlichst, Mirjam, die sich ein Leben ohne ihren Zwilling nicht vorstellen kann.
Wow… einen Zwilling haben wir gefunden… das ist schon mal der erste Schritt und wir schauen, ob sich weitere finden… Auf eine komplette Rezension könnte man ja vielleicht verzichten, wenn das Thema zu nah geht.. das verstehen wir schon… eine Meinungsäußerung zum Buch jedoch wäre sehr wünschenswert. Stellung beziehen – auch wenn es nicht leicht ist… unser kleines Ziel…
Wir
Hallo,
ich bin auch ein Zwilling und ich setze mich auch gerade mit dem Thema auseinander, da ich gerade „Ihr sollt die Wahrheit erben“ von Anita Lasker-Wallfisch lese. Ich würde dieses Buch auch gerne lesen.
Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob ich es schaffen werde, eine Rezension dazu zu schreiben! Eine Stellungsnahme allerdings ganz sicher!
Vielen Dank, dass ihr über diese Bücher berichtet, ich finde es sehr wichtig, darüber mehr zu erfahren!
Liebe Grüße
Lisi
Ein Zwilling hat uns gefunden…. toll.. und dazu noch jemand, der sich mit dem Thema beschäftigt… na fürs Erste sind wir mal sprachlos 😉
Wir waren von der Uni aus bei einem Zeitzeugengespräch mit Frau Lasker, deswegen will ich jetzt mehr über das Thema wissen, als das, was man so in der Schule hört. Lg Lisi
Ein Buch das ich auf jeden Fall lesen werde! Aber erst wenn ich die nötige Zeit dafür habe. Das ist nichts für nebenbei! Dem gebührt mehr…
Ich bin gespannt auf die Gastrezension!
Ihr Lieben,
euer Beitrag hat mich veranlasst, das Buch zu kaufen.
Ich habe es eine Weile liegenlassen müssen, weil ich ahnte, was mich erwartete, und ich hatte mich nicht getäuscht.
Die Worte, mit denen diese Abgründe menschlichen Leidens geschildert werden, sind so einfach gehalten und gerade in ihrer Schlichtheit kaum erträglich. Oft konnte ich beim Lesen die Tränen nicht zurückhalten – besonders wenn ich meine Tochter anschaue, die jetzt genauso alt ist wie Eva und Miriam damals, als sie in Auschwitz waren. Der Gedanke, sie müsste so etwas erdulden müssen, ist unvorstellbar und nicht auszuhalten.
Am stärksten berührt hat mich die Erkenntnis von Eva Mozes Kor am Ende des Buches, dass Vergebung Macht bedeutet, die niemanden verletzt und die der letzte Akt der Selbstheilung ist:
„1. Gib dich selbst und deine Träume niemals auf, denn im Leben ist alles Gute möglich.
2.Beurteile Menschen nach ihren Taten und dem Wesen ihres Charakters.
3. Vergib deinem ärgsten Feind und vergib jedem, der dir Schmerz zugefügt hat – es wird deine Seele heilen und dich frei machen.“
Worte, die in die Tiefe gehen.
Es grüßt euch
Anke
Da stimmen wir überein – Vergebung als Weg zum eigenen Leben – was für ein Denkansatz… was für eine innere Größe… Danke für diesen tiefen Kommentar!