Als erstes einfach mal: RESPEKT!
Wisst ihr was ich hatte, als ich den Distelfink auf mich zu flattern sah und er sich schließlich vor mir niedersetzte?
Ohne einen Arzt für bibliophile Menschen aufgesucht zu haben, würde ich es „Lesehemmung“ nennen. Oder auch RESPEKT. Denn dieser Roman hat es mit seinen über 1000 Seiten in sich. 1022 Seiten in einem Buch und nicht 1022 Seiten in ca. drei Büchern.
Aber es kommt nicht auf die Quantität, sondern auf die Qualität an, nicht wahr? Also habe ich die ersten Seite aufgeschlagen und begonnen zu lesen. Doch irgendwie wollte der Distelfink mich nicht so recht mit auf seine Flugreise nehmen. Irgendwie kam ich immer wieder ins Stocken und erst nach 40 Seiten löste sich mein „Reinfindproblem“ in Luft auf und verwandelte sich ins Gegenteil. Im Nachhinein verstehe ich selbst nicht, warum ich nicht vom ersten Wort an geflogen bin. Als ich nach knappen zwei Wochen den Roman beendete, begab ich mich zurück zum Anfang und schüttelte nur den Kopf, denn nichts, aber auch gar nichts, konnte ich als Begründung finden.
Donna Tartt ist einfach ein Profi! Anders kann ich es nicht sagen.
Viele von euch fühlen sich vielleicht ebenso ein wenig von den vielen Seiten erschlagen oder gehemmt. Ich möchte euch helfen, die Mauer zu überwinden, denn wenn ihr einmal auf der Tartt-Seite seid, wollt ihr nicht zurück. Ihr wollt keinen anderen Roman, ihr wollte den Distelfink, ihr wollt an Theos Seite.
10. April – New York – Theo Decker – 13 Jahre – Unglückstag
Heute ist Theo 27 Jahre und heute ist er soweit, um 14 Jahre zurück zu blicken oder besser gesagt, die vergangenen 14 Jahre in Worte zu fassen. Damals war er 13 Jahre und er sollte von der Schule suspendiert werden. Aus diesem Grund war er mit seiner Mutter, welche sich extra frei genommen hatte, auf dem Weg zur anstehenden Konferenz. Die schlechte Luft im Taxi brachte Mutter und Sohn zum frühzeitigen Aussteigen und nach wenigen Minuten an der frischen Luft, begaben sie sich kurzerhand ins Museum, denn nass werden wollte keiner. Der Zeitplan ließ einen Ausflug zu den Gemälden zu und schließlich betrachteten Mutter und Sohn das Gemälde des niederländischen Malers Carel Fabritius.
Das Gemälde „Der Distelfink“ erobert ihre Blicke, allerdings nur kurz, denn dann zerstört eine Explosion den Moment und gleichzeitig das ganze Leben von Theo. Wenige Sekunden bringen sein Leben und das vieler anderer Besucher aus dem Gleichgewicht.
Zerstörung. Staub. Blut. Tod.
Theo lebt. Seine Mutter ist tot.
Der Mann, den er gerade noch mit dem hübschen Mädchen gesehen hat, liegt schwerst verletzt in seiner Nähe. Er steckt ihm einen Ring zu und haucht ihm letzte Worte ins Gesicht. Wie ferngesteuert nimmt Theo das Gemälde unter seine Fittiche und versucht aus dem Trümmerhaufen in die Sicherheit zu gelangen.
„Sie war der goldene Faden in allem, eine Linse, die die Schönheit vergrößerte, sodass die ganze Welt in Beziehung zu ihr und nur ihr allein wie gebannt war.“ (Seite 615)
Nichts ist mehr wie es war und Theo möchte nicht begreifen, er möchte die Zeit zurück drehen, alles anders machen, er möchte seine Mutter zurück. Einsam und allein wird er ab sofort von hier nach dort geschoben und die Verzweiflung breitet sich vollends aus. Als sein Vater, von Drogen und Glücksspiel durchtränkt, ihn zu sich nach Las Vegas holt, beginnt für Theo eine neue Zeitrechnung. Er lernt Boris kennen und versucht einen Lebensweg zu finden und auf diesem zu gehen…
Theo Decker ist mir sehr schnell ans Herz gewachsen. Donna Tartt schreibt so lebensnah, so unglaublich real, dass man als Leser jeden Schritt miterlebt. Auch ich stand vor dem Gemälde, auch ich hätte es mitgenommen, auch ich würde wie eine Feder im Lebenswind treiben. So ein prägender Tag lässt das Leben nie wieder so werden, wie es einmal war. Alles ist anders, alles tut weh, alles ist schlimm und ungerecht.
Theos spontaner Griff zum Gemälde ist mehr als nachvollziehbar und das Zurückgeben schier unmöglich. Der letzte Moment mit seiner Mutter wird durch dieses Bild greifbar und für ihn ist es ein Lebensanker, koste es was es wolle. Ein Vermögen liegt in seinen Händen, was für ihn unbezahlbar ist und zum kostbarsten Erinnerungsbesitz wird.
„Das Bild hatte mir das Gefühl gegeben, weniger sterblich, weniger gewöhnlich zu sein. Es war mir Stütze und Rechtfertigung, mein Unterhalt, meine Summe. Der Grundpfeiler, der die ganze Kathedrale aufrechthielt. Und es war furchtbar, erkennen zu müssen – indem es mir so unvermittelt unter den Füßen weggerissen wurde -, dass ich mein ganzes Erwachsenenleben lang insgeheim von dieser großen, wilden, verborgenen Freude getragen worden war: von der Überzeugung, dass mein ganzes Leben auf der Spitze eines Geheimnisses im Gleichgewicht gehalten wurde, das die Sprengkraft besaß, dieses Leben jeden Augenblick in Stücke zu zerfetzen.“ (Seite 742/743)
Wie hättest du gehandelt? Wie würde es dir gehen? Was würdest du tun?
Donna Tartt lässt uns an Theos Leben teilhaben. Sie lässt uns nicht nur zuhören, sondern mitleben. Dieses Mitleben ist die Magie des Romans. Diese unheimliche Erzähldichte bringt diese Nähe, die ich so in dieser Form, in dieser Intensität, noch nie erleben durfte. Mir waren schon viele Protagonisten nah und doch kenne ich wohl keinen Menschen besser, als Theo Decker. In einem Guss durchlebte ich 14 Jahre voller Angst, voller Hass, voller Schuldgefühle und auch voller Lebenssehnsucht nach dem Grashalm, der Linderung bringt.
Drogen, Gewalt, Verzweiflung, der Schrei nach Liebe und Gedankenwelten um den Unglückstag sind die Eckpfeiler des Romans. Jeder Schritt ist nachvollziehbar und durch dieses Verschmelzen mit der Romanfigur ist der Verlauf der Dinge nicht zu unterbrechen.
Ein großer Seufzer ist am Ende des Romans hörbar. Ein Seufzer aus der Autorinnen- und Leserkehle. Ein Seufzer nach 10 Jahren des Schreibens, ein Seufzer nach 1022 Seiten die leider nicht unendlich sind.
Nur wer mit Theo gelebt hat, wird nachempfinden können, warum ich diesen Roman in den höchsten Tönen lobe. Ihr solltet euch einfach trauen, euch die Zeit nehmen und ihr werdet merken, dass euer Leben kaum gelebt werden kann, da ihr immer wieder in Theos Leben müsst. Dieser intensive Erzählstrang, geschmückt von vielen Worten die man sich einrahmen sollte, fesselt.
Pulitzer-Preisträger haben Literatwo noch nie enttäuscht und nach Paul Harding und Elizabeth Strout gehört Donna Tartt zu Recht in diese Reihe. „Ein wundervoller Coming-of-Age-Roman mit außergewöhnlicher Figurenzeichnung. Ein Roman, der den Geist anregt und das Herz berührt.“ – so die Begründung der Jury, der ich nur zustimmen kann.
Wer ein Lebensbild hat, wird sich selbst davor stehen sehen und verbindet den Roman damit. Ich war nie in München im Lenbachhaus und doch hat mir Arndt das Bild von Franz Marc – „Blaues Pferd„ – so nah gebracht, das ich es vor mir sehe und sah, als ich mit Theo unterwegs war. Er trug den Distelfink bei sich, ich das blaue Pferd.
„Der Distelfink„ (Goldmann) hat sich so tief in mir ausgebreitet, meine Gedanken so weit fliegen lassen, wie kein anderes Buch. Es ist ein Lebenswerk für Donna Tartt, ein Lebensbuch für mich. Ein zweites Leben, was ich mehrere Tage lebte. Ein Auf und Ab – ein Hin und Her – ein Leben mit Sonnen- und Schattenseiten, ein Leben was nachdenklich zurück lässt und welches ich nach tiefen philosophischen Schlussworten verlassen habe. Allerdings nur lesend, denn diese 1022 Seiten werde ich nie vergessen können und Theo habe ich selbst heute noch nicht losgelassen. Ich würde ihn gern anrufen und fragen, wie es ihm geht, ich wäre gern jetzt mit ihm unterwegs…
„Kein Ich, kein Er. Wir waren dieselbe Person. Dieselben Gedanken – wir brauchten nichts zu sagen. Es waren nur ein paar Minuten, aber es hätten auch Jahren sein können, wir könnten immer noch da sein.“ (Seite 819)
Spannend!Ich mochte das Buch sehr.LGXeniana
Ich freue mich schon drauf, aber ich werde es hören und hoffe auf eine emotionale Umsetzung…..sonst schaffe ich vielleicht den Sprung nicht…
Dieses Buch hatte ich heute wegen deiner tollen Rezi in der Hand. Ich war dann aber doch irgendwie abgeschreckt von den vielen Seiten. Aber ich werde es bestimmt noch lesen wenn mein SUB mal wieder kleiner ist!
Die vielen Seiten sind eben das Außergewöhnliche und bei dem Buch das absolute MUSS!
Vielen Dank für deine wundervolle Rezi….jetzt traue ich mich an das Buch und freu mich drauf !!!
So soll es sein und ich brauchte ebenso Mut. Schöne Lesetage!
In vier Tagen und Nächten war ich an der Seite von Theo und konnte das Buch nicht aus der Hand legen. Nach über 1000 Seiten komme ich zurück und wundere mich, dass das Essen nach Sandkörnern schmeckt und ich nicht in einem holländischen Hotelzimmer sitze …. Das Buch „Der Distelfink“ von Donna Tartt hat die hochbegabte Tiefenschärfe, Sog und Rausch, sprachlich ein Meisterwerk: ein „Distelfink“ der Literatur.
Wow, Irmgard! Aber ich kann dich so verstehen, denn Theo ist mir immer noch nahe. Drei Jahre liegt das Buch schon wieder hinter mir, Wahnsinn.
Du sagst es: MEISTERWERK
Schön zu lesen, dass es dir auch so ging und deine Begeisterung lässt meine wieder mit aufleben. Toll! Danke für die Worte.
Und nun? Wartet schon der nächste Tartt?