Dresden. Ich stehe auf meinem Balkon, es ist November und der Wind trägt sanft die Zirkusmusikklänge des Sarrasani herüber. Meine Gedanken werden von dem Wind, der nun weiter zieht, aufgenommen und schweben zu Lena, Lenotschka der Seiltänzerin, und zu ihrer Puppe Mira, sowie zu Franz Kafka.
Diese Worte schrieb ich vor über drei Jahren, als ich den Roman das erste Mal las. Heute schreiben wir den 5. Oktober und ich war soeben mit Gerd Schneiders Roman auf dem Zirkusgelände und habe ihm gezeigt, wo der Sarrasani steht. Ein tolles Gefühl, denn ich habe die Seiltänzerin, die mir am Ende des Romans begegnete vor mir gesehen.
Kafkas Puppe
Schneiders Roman hat nach dieser langen Zeit gerufen. Er wollte noch einmal gelesen werden und zwar aus gutem Grund oder eher aus guten Gründen. Wir treffen den Autor und „Kafka-Kenner“ auf der Buchmesse in Frankfurt persönlich, der kleine Roman ist ein echtes Herzstück und dieses Werk soll dringend einen Platz bei uns hier bekommen.
Franz Kafka sitzt wie jede Nacht an seinem Tisch und schreibt. Er schreibt meist an Geschichten, die ein trauriges Ende haben, findet seine neue Frau Dora. Doch dies sollte sich bald ändern…
„Wie könnte eine Vereinigung größer sein zwischen Liebenden, als dass sie miteinander verschmelzen!“ sagte er, woraufhin Dora erwidertet: „Sie sind verbrannt, das ist es, was bleibt.“
Franz hat Prag hinter sich gelassen, um nun in Berlin mit Dora einen Neuanfang zu wagen. Doch mit der Ankunft in Berlin, weitet sich auch seine Krankheit aus. Tuberkulose.
Kafka schreibt weiter, vor allem nachts. Das Licht brennt und seine Worte verewigen sich auf dem Papier. Bei Tageslicht spaziert er gern durch Berlin, durch den Steglitzer Park.
Lena, ein kleines Mädchen, findet er weinend auf einer Bank. Sie hat ihre Puppe verloren. Mira ist weg, Mira, ihr ein und alles, ihre Familie. Diese Begegnung geht Franz tief ins Herz, er suchte Mira, er möchte Lena ihre Puppe ersetzen. Doch er möchte ihr nicht einfach eine neue Puppe schenken und Mira ersetzen kann er mitnichten, denn Oberst Behrens Collie Karo hat diese zerstört.
Er hat eine andere Idee. Er schreibt. Kafka schreibt Briefe aus Miras Sicht und überreicht sie ihr fortan täglich. Mira ist vor einem Hund geflüchtet und meldet sich nun immer wieder von ihrer Reise. Franz ist Miras Briefeüberbringer und Lena akzeptiert und glaubt dies schnell. Lena wird für Franz ein Tageshöhepunkt, denn er schenkt ihr täglich mit den Briefen ein Stück Hoffnung, ein Stück Leben, ein Stück Mut und ein Stück Fantasie. Sobald allerdings die Steglitzer Kirchturmuhr zwei schlägt, müssen sie sich trennen, denn Lena muss zurück zu ihrer Mutter. Franz Kafka allerdings weiß nicht, dass Lena keine richtige Mutter hat, sondern in einem Waisenhaus wohnt.
Kein Tag vergeht nun ohne dieses Treffen, kein Tag ohne die Geschichte über den Reiseverlauf der zum Leben erweckten Puppe, kein Tag ohne die Begegnung mit Oberst Behrens und seinem Collie Karo, kein Tag ohne tiefe Gespräche mit Dora. Kafka ist bereits schwer krank, doch diese kleine Lena ist für ihn besonders, gibt ihm Kraft zu schreiben und die Möglichkeit einem kleinen Menschen den Lebensbeginn zu verschönern.
Kafka schreibt Briefe
Eine wunderbare, herzzerreißende und doch so einmalig einfühlsame Begegnung voller Liebe, Vertrauen und Halt, vor der Zeit des Krieges und der Konzentrationslager.
Kafka, ist das nicht dieser schwierige Schriftsteller?
Ja ist er und ich gestehe, nie ein Werk von ihm gelesen zu haben. Und doch habe ich es mit diesem Werk von Gerd Schneider nachgeholt und kann mein „Ja“ in ein „Nein“ wandeln.
Gerd Schneider schreibt nicht nur über Franz und Lena, sondern beleuchtet Kafkas Zeit in Berlin, seine letzten Lebensabende. Ebenso blickt er zurück auf die vergangenen Lebensjahre des Schriftstellers. Schneider vollführt in seinem Roman „Kafkas Puppe“ eine Wörterseiltanz und den Spagat zwischen Realität und Fiktion.
Der Autor schreibt gefühlvoll, seine Kapitel benötigen keine Überschriften und sein Werk steckt voller Wissen. Vor allem am Ende bleibt ein Lachenweinenkloß im Halse des Lesers stecken. Kafka war Jude und starb an Tuberkulose, seine Schwester Ottla allerdings, wurde ermordet, im Konzentrationslager Auschwitz.
Nach diesen 218 Seiten fühlt man sich als Kafka-Kenner. Nach diesem teils biographischen Werk ist Kafka für mich eine Persönlichkeit geworden, die nie vergessen werden darf, denn spätestens im Nachwort hat sich dieser Mann in allen Buchliebhaberherzen einen festen Platz gesichert. Kafka findet sich zudem auf Platz drei der französischen Liste „Die 100 Bücher des Jahrhunderts„ wieder.
„Kafkas Puppe“ (Arena Verlag) verbinde ich seit den letzten Seiten, die sich tief in mir verankert haben, mit dem Seiltanz. Ich sehe Lena vor mir, ich sehe ihre Puppe Mira vor mir und ich höre die Zirkusmusik aus dem Zelt des Sarrasani.
Für mich wird es Zeit, demnächst in ein Werk von Kafka selbst einzutauchen. Im Werk „Das literarische Kaleidoskop„ von Regina Kehn, welches wir euch vorstellten, ist von ihm „Kleine Fabel“ zu finden. Gerd Schneider hat auch diese kurz im Nachwort erwähnt. Vielleicht „Briefe an Vater“ oder „Die Verwandlung“ – auf jeden Fall soll bald ein Kafka in meinem Regal einziehen und „Kafkas Puppe“ Gesellschaft leisten.