Schlagwort: Sibirien

Suleika öffnet die Augen

Suleika öffnet die Augen ~ Gusel Jachina

Suleika öffnet die Augen.

Als ich die Augen öffnete und mit diesen die ersten Worte des Romans berührte, konnte ich nicht mehr atmen. 45 Seiten lang hielt ich förmlich die Luft an, genau wie es mir Arndt von Astrolibrium vorher gesagt hatte. Die geballte Ladung Leben ließ mich erstarren, die geballte Ladung Gefühl im Buch verharren. Was für ein starker Auftakt eines Romans. Autorin Gusel Jachina hat mich sofort an Suleikas Seite geholt, nein, noch näher. Sie hat mich zu Suleika gemacht und intensiv spüren gelassen, wie wertlos ich bin.

Über 500 weitere Seiten lagen nun noch vor mir, welche ich nicht einsam und still laß. Nein, ich machte mich vorwiegend gemeinsam mit Arndt auf die Reise ins kalte Sibirien. Mal ging ich hinter ihm her, dann lief ich vor und markierte den Weg und letztendlich kamen wir gemeinsam am Zielort an. Wir gingen nicht freiwillig, aber wir versuchten das beste daraus zu machen und sammelten unsere Kräfte, um das kommende Leben zu ertragen.

Schon über 15 Jahre weilt die erst 30-jährige Suleika an der Seite ihres Mannes und somit auch an der Seite ihrer furchteinflößenden Schwiegermutter, der alten Hexe, der Upyricha.

Suleika öffnet die Augen ~ Gusel Jachina

Suleika funktioniert

Sie muss sich beugen, sie muss gehorchen, sie muss funktionieren. Eigene Entscheidungen konnte sie in ihrem Leben kaum treffen, für sie wurde entschieden. Bei allen Tätigkeiten spürte sie den scharfen Blick der Upyricha in ihrem Rücken, hörte die bösen Worte in ihren Ohren. Suleika öffnet die Augen von Tag zu Tag und verrichtet immer wieder die gleichen Dinge, oftmals zur gleichen Tageszeit. Auch die Taubheit und Blindheit konnten die Alte nicht verändern, sie blieb übermächtig und führte Suleika unermüdlich vor, wie sie sie hasste.

„Du kannst überhaupt nichts. Weder schlagen, noch töten, noch lieben. Die Bosheit schläft tief in deinem Inneren und wird nie mehr aufwachen. …du bist und bleibst ein nasses Huhn.“ (Seite 39)

Ein Schuss erlöste Suleika aus ihrem Alltag. Ein Rotarmist erschießt ihren Mann und Suleika öffnet ihre Augen und blickt auf ein völlig neues Leben. Ein besseres Leben? Sie ist allein am Anfang eines neuen Weges. Sie wird deportiert und wir begleiten sie.

Doch nicht nur wir und Suleika kommen in Sibirien an, auch Iwan Ignatow, besagter Rotarmist. Auch er hat ein Schicksal zu tragen. Ein Charakter den wir beide fest ins Herz geschlossen haben.

Suleika öffnet die Augen ~ Gusel Jachina

Sibirien

Autorin Gusel Jachina beschreibt sehr bildhaft, wie es in Sibirien aussieht, sie beschreibt detailliert, was zu tun ist, um in der Kälte anzukommen und Behausungen zu errichten. Doch nicht nur die Umgebung und die Menschen beleuchtet sie, auch deren Gefühle und besondere Ereignisse, die wir miterleben dürfen. Regelrechte Wunder – ein neues warmes Leben auf altem kaltem Grund. Doch wir erleben auch Wunder in hohem Alter, eine Wiedergeburt eines Arztes, die uns Tränen in die Augen trieb. Aber auch Wunder der Kunst, welche uns sehr bewegt haben.

Gusel Jachina entfaltet genau dort Emotionen, wo wir sie am wenigsten erwarten. Einige Längen gehören in den Roman, aber diese werden auch gebraucht, denn das Leben dort ist nicht schnell, es entschleunigt uns Leser und am Ende des vierten Teils werden wir belohnt und werden Zeuge davon, dass es auch an kalten Orten ein klein wenig Wärme gibt.

Wir dürfen so einige Überraschungen erleben, aber auch Suleika selbst. Mehr möchte ich nicht verraten, den aus meiner Sicht verrät der Klappentext schon viel zu viel. Ich habe ihn erst im Nachhinein gelesen, vielleicht haltet ihr es auch so.

Suleika öffnet die Augen ~ Gusel Jachina

„Die Freiheit ist wie das Glück…den einen schadet sie, den anderen nützt sie.“ (Seite 200)

Zieht euch warm an, bevor ihr die ersten Seiten lest. Festes Schuhwerk, warme Sachen und nehmt viel innerliche Wärme mit, denn die werdet ihr brauchen. Vielleicht habt ihr auch einen Lesekompass und ihr lest gemeinsam, so wie wir. Lasst euch in diesem Werk fallen, wenn ihr eine starke Frau namens Suleika kennenlernen, die unberührte Natur Sibiriens spüren und euch der Rauheit zwischen von Stalin Ausgesiedelten Menschen stellen wollt.

Mein absolutes Lieblingszitat möchte ich euch noch mit auf den Weg geben.

„Im Herzen wohnt das Gefühl, nicht die Vernunft.“ (Seite 432)

Eure
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Und in mir der unbesiegbare Sommer…

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…unscheinbar, leise und weiß wie frisch gefallener Schnee schleicht sich der unbesiegbare Sommer ins literatwoische Wohnzimmer. Das Buch scheint eingefroren zu sein. Der Schutzumschlag fühlt sich kalt an. Und doch zieht es magisch an, etwas unbesiegbares scheint in ihm zu warten. Es ruft, es möchte gelesen werden, es trägt eine Geschichte in sich, die warm und kalt zugleich ist. Die wunderschön und doch so grausam ist, die etwas Liebe und mehr Leid in sich bereit hält. Weiß die Hauptfarbe des Covers – rein, unbefleckt, unschuldig, frisch. Weiß – die Farbe des Glaubens, des Lichts, der Bescheidenheit, der Wahrheit und der Klugheit.

Bereits die erste Begegnung mit Lina, einem fünfzehnjährigen Mädchen aus Litauen, verläuft hektisch. Lina muss packen, jetzt sofort. Es stehen Männer vor der Tür, böse uniformierte Männer, sie reden mit ihrer Mutter in einem unfreundlichen Tonfall. Lina soll sich beeilen, es bleiben 20 Minuten in denen sie schnell ein paar Sachen einpacken soll, viele warme Sachen und auch wertvolle Gegenstände, nur nützliches darf mit. Lina versteht die Welt nicht mehr, sie steht unter Schock, ihr Vater ist nicht da, ihr 10jähriger Bruder Jonas ist völlig durcheinander und ihre Mutter ist voller Panik und die Männer der sowjetischen Geheimpolizei schauen auf die Uhr und warten ungeduldig.

Aufbruch ins Ungewisse

Sie müssen los, ein Lastwagen steht vor der Tür, in dem bereits einige andere Menschen mit ihrem Gepäck sitzen. Menschen die auch auf der Liste stehen. Angstvolle Gesichter blicken Lina an, Lina die noch immer ihr geblümtes Nachthemd an hat, wie sie erst jetzt merkt. Eine lange Reise ins Ungewisse beginnt, eine Reise die leider kein fürchterlicher Alptraum ist.

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