Abgefuckt. Ja ihr lest richtig, da steht das Wort abgefuckt. Lange habe ich überlegt, ob ich dieses verwenden kann. Egal wie, ich muss es verwenden, es gibt nur ein Prädikat, was zu diesem Roman passt: abgefuckt.
Stella. Stella ist betrunken. Stella kotzt. Stella nüchtert etwas aus. Stella geht tanzen. Stella nimmt MDMA. Stella hat Sex. Stella geht schlafen.
Bereits die ersten 10 Seiten lassen erahnen, was den Leser erwartet. Genau in der beschriebenen Abfolge beginnt Palombas Roman um Stella. Diese lernen wir auf einer Party kennen, als sie sich in sehr angetrunkenem Zustand entschließt, zu einer anderen Party tanzen zu fahren. Dort holt sich Stella dann den ultimativen Kick, denn sie will mehr. Mehr erleben, intensiver, abgefahrener – so wie nie zuvor.
Dieser Abend verändert Stella vollkommen. Die Drogen, der Sex mit Marco, der spezielle Gefühlsmix an sich hinterlässt in ihr Spuren. Spuren die nach Veränderung rufen und kurzerhand trennt sie sich von Donato, ihrem Freund. Ihr bisheriges recht braves Leben, sie kommt aus einer ordentlichen, normalen Familie und studiert Philosophie, muss nach und nach etwas Neuem weichen.
Stella bricht innerlich aus, sucht die grenzenlose Freiheit und stürzt sich in einen Sumpf. Das selbstgewählte Spiel mit dem Feuer beginnt.
Achtung es wird abgedreht, denn eine Story im Rausch der Gefühle, der Sinne, der Körper beginnt.
Die Liedzeilen der Band „Materia“ – „…wir reißen uns von allen Fäden ab…“ und „…wollen mehr sein, mehr sein, als nur ein Moment…“ klingen in meinem Kopf.
Wo andere vielleicht noch Hemmungen haben, hat Stella keine. Sie konsumiert was sie konsumieren kann und probiert alles aus, was man nur ausprobieren kann. Opium, Koks, Ketamin, MDMA – bis hin zu diversen Mischungen, alles ist dabei und sie leistet sogar mit einer Heroinspritze erste Hilfe. Sie lässt nichts aus, kann nichts auslassen, denn der Reiz ist einfach zu groß.
Marco geht Stella nicht mehr aus dem Kopf und um ihm zu gefallen, lässt sie alles zu. Grenzenlos gibt sie sich ihm hin und das Konsumieren der Drogen gehört gleich zu Beginn eines Treffens, bei denen sie gnadenlos mit dem Feuer spielt, dazu. Zu den Drogen gesellt sich ganz automatisch und selbstverständlich der Sex, welcher gerade in zugedröhntem Zustand zu einem unbeschreiblichen Abenteuer des Rausches wird.
Immer mehr, immer weiter, ohne extreme Steigerungen hat Stella keine Chance. Einfachheit ist nicht mehr erregend genug, es muss pervers sein, anders sein, Extremismus pur.
Als Leser fühle ich mich bereits nach den ersten Seiten schon wie unter Drogen und Alkohol und gebe mich den Worten Ilaria Palombas hin und das Karussell läuft schneller und schneller. Die Worte abgefuckt aber gut, schwirren mir durch den Kopf und die ein oder andere Szene entlockt mir ein leichtes Schmunzeln der Erinnerung.
Ich bin einerseits aus unerklärlichen Gründen fasziniert von Stella und verfalle in einen Rausch. Ebenso allerdings ekel ich mich vor ihr und der zunehmenden Naivität. Vor allem als der Drogenkonsum zum Alltag gehört und sie immer mehr zu versinken droht. Dennoch ist ihr scheinbar doch bewusst, was sie tut. Sie spielt gern mit dem Feuer, kann ihre Finger weder von Marco noch von den Drogen lassen und selbst als die Exzesse ins Unermessliche ausufern, kann sie die Notbremse nicht ziehen. Sie zieht sie auch absichtlich nicht, sie kann es nicht, will es nicht, schafft es nicht, möchte es nicht schaffen.
Die Distanz zu ihrem bisherigen Leben wächst, sie entfernt sich von ihren Eltern, sagt sich von den ehemaligen Freunden los und treibt von Trip zu Trip in völlig neue Umfelder hinein. Mit fast 20 Jahren sind auch ihre Eltern machtlos. Deren Hände sind gebunden und sie verlieren ihre Tochter. Kontrolle unmöglich, selbst die größten Bemühungen verlaufen ins Leere.
Neugierig ziehe ich beim Lesen selbst Parallelen zur Autorin. Sie selbst lebt ebenfalls in Italien, hat blonde Haare, ist Mitte zwanzig und studiert ebenfalls Philosophie. Der Roman – ein Einblick in ihr früheres Leben oder gar in ein Leben, welches sie gern probiert hätte und es nun schreibend auslebt? Oder verarbeitet Ilaria Palomba ihre ehemalige Drogenlaufbahn?
Der Schreibstil der Romandebütantin ist ein einziger Rausch und doch wird die Protagonistin Stella von außen betrachtet, es wird über sie und ihr Handeln erzählt. Von Stella selbst werden konstant Gedankensamen eingestreut, in welche sich der Leser von Anfang an begeben muss. Gerade diese erzeugen den wahnsinnigen Sog, den gewissen Rausch und lassen den Trip miterleben.
Am Ende, als das Handlungsfass keinen Boden mehr hatte, gab es einen Knackpunkt für mich selbst. Ein Punkt namens Distanz, ein Moment des Erwachens, denn die Autorin erzeugte mit ihrer Protagonistin eine Situation, die mich dazu brachte, mir ein Gegenmittel zu spritzen.
Ich musste atmen, das Gedankenkino unterbrechen, ich musste runter vom Trip. Der Roman musste zur Seite gelegt werden, da ich selbst erwachte und ich mich, wie auch Stella anschrie. Ich versuchte es und schaffte es nicht, die Atemluft war zu dünn.
Abhängigkeit im Tal der absoluten Tiefe. Abgrund.
Dieser Roman ist speziell. Er ist sehr speziell, er ist krass, er ist krank, er ist ekelhaft und doch so abgefuckt, dass er einen unwiderstehlichen Reiz hat.
Er ist voller Gewalt, voller Drogen, voller Narben, voller Schmerz, voller Perversität und doch hat er diese magische Anziehung, die mich in seinen Fängen hielt. Genau wie Stella komme ich immer wieder angekrochen, obwohl ich weiß, was passieren wird.
Dieses Buch kann man nicht empfehlen, da es keine richtigen Argumente gibt. Es wäre vergleichbar mit einer Empfehlung Drogen zu nehmen. Dies tut niemand, auch ich nicht. Die innere Stimme muss nach diesen Worten bestimmen, ob der Stoff konsumiert werden sollte oder nicht. Diese innere Stimme sollte allerdings volljährig sein, denn „Tu dir weh“ spricht Gossenklartext und der liegt so manches Mal schwer im Lesermagen und zerrt an der Psyche.
Für mich persönlich ist dieser Roman eine Droge, welche ich in meinem Leserleben nicht missen möchte. Mich hat dieser Stoff angezogen, nicht mehr losgelassen und ich habe alle Höhen und Tiefen durchleben müssen und auch können. Er hat sogar bewirkt, dass ich zwei Tage kein neues Buch beginnen konnte, ich brauchte regelrechten Entzug.
Ich bin drogenabhängig und die Droge hat einen Namen „Tu dir weh“.