„Vom Ende der Einsamkeit„ (Diogenes) von Benedict Wells ist ein gebündeltes Wortpaket voller Emotionen, Lebensfragen und Charakteren die in dieser Ausprägung gewiss nicht gleich an der nächsten Bushaltestelle stehen.
Habe ich tatsächlich im August 2011 das letzte Werk aus seiner Feder gelesen? Warum eigentlich? „Fast genial„ liegt schon fünf Jahre zurück und genau fünf Jahre musste ich warten, bis ich mich erneut zwischen wellsische Zeilen fallen und treiben lassen konnte. Fünf Jahre – aber wie heißt es doch so schön – was lange währt, wird gut?
Und gut ist Benedict Wells neuer Roman. Gut ist an dieser Stelle auch nicht passend – er ist grandios, er ist rund, er ist wahnsinnig bewegend und er ist eine tiefe Reise durch drei Charaktere, die alle das gleiche Schicksal in der Kindheit ereilt hat. Der tragische Verlust der Eltern. Unfall. Tod. Einsamkeit…
„Was sorgt dafür, dass ein Leben wird, wie es wird?“ (Seite 11)
Und dann trifft es mich hart. Motorrad. Unfall. Koma. Ich kann nicht anders, ich muss den Roman kurz zur Seite legen. Der Wortschlag war zu hart. Kurz sammeln, eigene Emotionen zurück drängen und in die Geschichte fallen lassen. Benedict wird wissen, was er schreibt, was er mir erzählt…
„Dein wahrer Freund ist jemand, der immer da ist, der dein ganzes Leben an deiner Seite geht. Du musst ihn finden, das ist wichtiger als alles, auch als die Liebe. Denn die Liebe kann vergehen.“ (Seite 33)
Ich bin zurück bei Jules und lasse mich mit den Strömungen mitreißen. Im Jahr 1980 war Jules sieben Jahre alt, das Leben war in Ordnung. Wenige Jahre später ist alles anders – nicht nur ihn, sondern auch seine Geschwister Liz und Marty ereilte ein großer Schicksalsschlag. Ein Autounfall holt die Eltern der drei aus ihrem Leben. Von jetzt auf gleich – Waisenkinder. Ein Unfall ist schon schlimm genug, doch wenn man im Streit auseinander geht und man sich nie wieder entschuldigen kann, dann ist das härter als hart.
Jules muss damit leben…
Wenn die Eltern-Säulen der Familie wegknicken, bleiben Geschwister und Freunde. Jules steht an einer Lebensweiche. Zusammenhalt ist wichtig und gleichzeitig keine Verständlichkeit. Erst recht dann nicht, wenn drei Kinder unter Schock stehen und erstmal mit sich selbst klar kommen müssen. Ein Weg wird sich heraus kristallisieren. Alva – Jules beste Freundin ist da.
„Eine schwierige Kindheit ist wie ein unsichtbarer Feind, dachte ich. Man weiß nie, wann er zuschlagen wird.“ (Seite 136)
Der Verlust der Eltern ist nicht einfach so akzeptierbar und kreist wie ein Helikopter über Jules. Ein Helikopter dem nie das Kerosin ausgeht, es sei denn, die Chemie kommt ins Spiel. Das Leben dreht sich weiter und Alva ist mal nah und mal fern. Doch nicht nur Alva entgleitet ihm, auch seine geliebte Schwester Liz entfernt sich – ist weg. Die Einsamkeit kriecht heran…
„…das Gegengift zu Einsamkeit ist nicht das wahllose Zusammensein mit irgendwelchen Leuten. Das Gegengift zu Einsamkeit ist Geborgenheit.“ (Seite 171)
Doch wir ernten, was wir säen – ist es nicht so? Wir laufen nicht nur nach vorn, sondern gehen auch Wege zurück. Wir fliegen durch die Zeit – die Zeit fliegt, Ängste entstehen. Alva taucht auf, das Unveränderliche, ein anderes Leben beginnt und doch fühlt sich die Begegnung mit ihr nach vielen Jahren wie ein Stoß in die Vergangenheit an.
„Vielleicht solltest du einmal in deinem Leben etwas bis zum Ende festhalten, statt immer gleich weiterzuziehen.“ (Seite 295)
Benedict Wells lässt uns nicht nur in eine andere Welt tauchen, andere Leben durchfühlend leben, sondern er hält uns unbewusst an, über uns nachzudenken. Mir ging es oft so, dass ich an einigen Sätzen regelrecht hängen geblieben bin. Ich habe diese immer und immer wieder gelesen und überdacht und reflektiert. Bücher bereichern dein Leben noch mehr, wenn du sie zum richtigen Zeitpunkt liest. Benedict hat mir mit einigen Sätzen zu wichtigen Gedanken verholfen und indirekte Entscheidungen getroffen. Das ist der Mehrwert am Buch – wenn Wortfluten in dein Leben schwappen und die Strömung des Leserlebens bereichern.
„Das Leben ist kein Nullnummernspiel. Es schuldet einem nichts, und die Dinge passieren, wie sie passieren. Manchmal gerecht, so dass alles einen Sinn ergibt, manchmal so ungerecht, dass man an allem zweifelt.“ (Seite 299)
Sein Buch, sein Roman, nein, sein Werk ist einfach durchgehend grandios und voller Wortgewalt. In zwei Teilen lässt er seinen Erzähler Jules, welcher gleichzeitig auch Hauptprotagonist ist, allerhand erleben. Er hangelt sich durchs Leben, kämpft mit der Liebe und dem Schmerz, mit dem Verlust und der Trauer und er flüchtet sich in heile Gedankenwelten. Vergangenheit und Gegenwart – nicht nur ein, sondern drei mehr oder weniger komplette Leben treten vor uns. Benedict Wells holt uns so tief ins Buch, dass das Auftauchen in die Realität am Ende sehr schwer fällt. Der Verlust ist groß, denn die Charaktere sind so lebensecht, dass man als Leser jeden Schritt mit läuft.
Nicht nur Jules holt die schwierige Kindheit ein. Auch Marty, der auf den ersten Blick den wohl besten Lebensweg erwischt, hat zu kämpfen – Zwangshandlungen und Ticks bestimmen seinen Tag. Liz rutscht völlig ab und handelt unüberlegt und oftmals unter Drogeneinfluss. Jules wandelt sich vom lebenslustigen Jungen, in einen in sich gekehrten Mann und versucht sich immer und immer wieder in die Fotografie zu verlieben, sich in ihr zu verlieren – dem Vater wegen.
Die Kapitel, in denen er immer ein paar Jahre zusammenfasst und deren Schwerpunkte intensiv thematisiert, haben eine unwahrscheinliche Realitätswucht, aber auch poetische Züge. Vor allem ab dem Zeitpunkt des Wiedersehens, drehen sich zwei Eieruhren des Lebens. Schriftsteller Alexander Nikolaj Romanow altert und seine Erinnerungen schwinden – Jules und Alvas Erinnerungen werden klarer und vermehren sich.
Mehr möchte ich euch nicht erzählen. Mehr Worte und Zitate bedarf es wohl auch nicht, denn jeder Literaturliebhaber wird erkennen, dass es sich hier um einen Buchschatz handelt, der lange nachhallen wird.
Benedict – ich verneige mich vor dir, vor deinen Charakteren, vor jedem Satz mit dem du in mir Gefühle und Gedanken hervorgerufen hast. Und ich verneige mich vor der Lebendigkeit dieses Kunstwerkes, was sich verdammt real angefühlt hat und nicht wie eine Flucht in eine andere Welt…