Mögt ihr Bahnhöfe? Ich stehe gedanklich soeben in Hamburg auf dem Hauptbahnhof. Auf dem Bahnsteig gegenüber sitzen zwei junge Menschen auf der Bank. Ein Junge namens Albert und ein Mädchen namens Kati. Woher ich die beiden kenne? Ich habe beide ein Stück auf ihrem Lebensweg begleitet und noch immer schwirrt mir der Kopf vom soeben erlebten.
Albert ist 16 Jahre jung und soweit ich weiß, ziemlich allein. Sein Vater verschanzt sich fast rund um die Uhr in seiner Welt, der Welt der mathematischen Gleichungen. Seine Mutter hat vor Jahren die Flucht in ein lebendiges Leben ohne Zahlen ergriffen. Alberts Welt ist die Welt der Fotografie. Der Hamburger Hauptbahnhof ist aus diesem Grund sein Lieblingsumfeld, aber nicht der Züge wegen. Er ist wegen der Menschen hier, wegen den vielen Abschieden, die er bildlich festhält. Abschiede haben für ihn eine große Bedeutung und Abschiede sind Momente, in denen sich die Welt kurz in die andere Richtung dreht.
Sorry für die Unterbrechung, aber kennt ihr dieses Gefühl des Abschieds? Wer mag überhaupt Abschiede? Ich könnte stundenlang über das Wort Abschied schreiben und welche Gefühle ich damit verbinde. Verratet ihr mir, was in euch bei Abschieden vorgeht? Mir zerreißt es innerlich immer ein Stück Herz. Es reißt an, bekommt einen kleinen Knacks und heilt erst wieder, wenn ich denjenigen wieder in die Arme nehmen kann, den ich für eine Weile gehen lassen muss. Wenn ich am Bahnhof allein zurück bleibe, überrollt mich die große Leere, eine Art Verlustgefühl, was in mir ein schmerzhaftes Brennen erzeugt. Abschiede – ich mag euch nicht…
Abschiede sind dennoch beeindruckend, wenn es um andere Menschen geht, da man ihre persönlichen Geschichten nicht kennt. Sehen sich die zwei wieder oder nicht?
Albert sammelt diese Momente, er setzt diese für sich in Szene und archiviert diese Blicke, Tränen und Umarmungen sorgfältig auf seinem PC. Zum richtigen Zeitpunkt den Auslöser zu betätigen bedarf viel Gespür und Feingefühl. Albert hat Talent und er steht unter Beobachtung, was ihm bewusst wird, als er von der Polizei aufgegriffen wird.
Keine Angst um Albert, denn Albert ist wohl der anständigste Protagonist, den ich je getroffen habe. Das könnt ihr glauben. Ganz anders verhält sich mit Kati und Sascha. Sascha konsumiert Drogen. Kati hat ein Gesicht wie ein Model und Hände wie ein gewalttätiger Obdachloser. Ein Gegensatz der fasziniert und Kati interessiert sich brennend für Alberts Hobby. Sie möchte seine Bilder sehen. Alberts Lieblingsfoto ist das Foto, was Kati aus der Bahn wirft. Es hält einen besonderen Abschied fest. Einen Abschied der für Kati wie eine Lüge aussieht. Ein Abschied der Kati Fragen beantworten könnte. Ein Abschied der nicht nur ein Leben verändert hat…
Echt? Echt!
Christoph Scheuring entführt uns Leser nicht nur auf einen bekannten großen deutschen Bahnhof. Er führt uns viel weiter und zwar dorthin, wo wir körperlich nicht hin wollen. Er bringt uns in dunkle und versiffte Ecken des Bahnhofs. Er zeigt uns das Elend zwischen den sauberen Bahnsteigen und er lässt uns den Mief abseits der modernen Bahnhofsgeschäfte einatmen.
Protagonist Albert trägt symbolisch eine unsichtbare weise Weste und begegnet auf dem Bahnhof fast nur Menschen, die auf ihrer ehemals weisen Weste dunkle Flecken tragen. Bei einigen ist kaum noch die ursprüngliche Farbe zu erkennen. Diese Menschen haben sich nach und nach in ein Leben begeben, was von Drogen, Gewalt, Verbrechen und Obdachlosigkeit geprägt ist. Für Albert eine völlig fremde Welt mit einer erschreckenden Umgebungsmelodie.
„…das Leben ist sinnlos, aber es ist noch viel sinnloser, wenn du nicht versuchst, etwas Sinnvolles daraus zu machen.“ (Seite 46)
Echt? Echt!
Christoph Scheuring findet in seinem Werk Worte, die eine Leseunterbrechnung verhindern. Daran tragen die Charaktere eine große Mitschuld, denn diese sind geheimnisvoll, undurchsichtig und auch unberechenbar. Wer sich an Alberts Seite stellt, muss sich bewusst sein, dass es eine abenteuerliche Zeit mit einigen Gefahren und vielen schwierigen Momenten wird. Albert selbst bleibt sich in der Zeit so wahnsinnig selbst treu, ein Charakter der schon mit 16 Jahren tief auf seinem Weg verankert ist, was mich sehr beeindruckt hat.
Das Werk wird aus Alberts Sicht erzählt und ist dadurch gerade so authentisch. Albert ist offen und stellenweise leicht naiv, räumt dem Thema Schule wenig Platz ein und auch sein Vater bleibt eine relativ farblose Persönlichkeit. Das Thema Schule und das Thema Eltern ist recht offen und hält viel Diskussionsstoff bereit. Christoph Scheuring provoziert still und heimlich mit seinen Worten, was das Werk für mich besonders macht. Gerade Alberts Vater kurbelte regelmäßig meinen Ruhepuls in die Höhe.
Kati und Sascha habe mich mit ihrer Art fasziniert und gleichzeitig in mir den Knopf Mitleid aktiviert. Charaktere die mit einem Bein bereits im dunklen Lebenssumpf stecken, die Hilfe brauchen und „gerettet“ werden müssen, aber nicht richtig greifbar sind und von Geheimnissen umhüllt sind.
„Wenn du ein Leben nach dem Tod willst, musst du dich jetzt darum kümmern. Als Toter hast du keine Zeit mehr dafür.“ (Seite 47)
Der Roman arbeitet in mir, lässt mich tief denken, wirft viele Fragen auf, zieht mich auf den Bahnhof und macht mich doch ebenso hilflos. Eine Mischung für die es am heutigen Tag keine Worte gibt.
Der Inhalt ist so stark wie das Hardcover aus Pappe, so andersartig wie die Covergestaltung und bleibt so haften wie der Titelaufkleber. Ein beeindruckendes neuartiges Zusammenspiel, was mich absolut begeistert. Harte Schale, hart-weicher Kern – ECHT!
„echt„ (magellan) ist so echt, wie der Bahnhof in Hamburg. Autor Scheuring setzt sich in seinem Werk mit Jugendlichen auseinander, die ihr kennenlernen solltet. „echt“ ist mehr als Bahnhof und Fotografie – „echt“ ist ein Blick in intensive Leben am Rande unserer Gesellschaft.
Toller vorletzter Absatz!
Ich sitze grad am Hamburger Hauptbahnhof (Gleis 6) und bin so eben fertig geworden mit dem Buch. Hat mich auch echt geplättet. Ich sehe die Menschen am Bahnhof nun mit ganz anderen Augen und bin auch viel Aufmerksamer. Gestern Abend beim Warten auf meine Sbahn suchte ich das gegenüberliegende Gleis unbewusst die ganze Zeit nach einem Jungen mit Kamera und einer möglichen Kathi ab xD
Wie cool – auf jeden Fall sieht man dann die Leute mit anderen Augen – das kann ich nur unterschreiben. Da kommen gleich wieder die Leseerinnerungen hoch. Genial.
Hoffe deine Fahrt war gut – Romane sind einfach richtige Lebensbereicherungen. Herrlich.