Ihr seid mit Harold Fry vor einiger Zeit unterwegs gewesen und ihr würdet jederzeit wieder mit ihm laufen? Oder schmerzen euch noch immer die Füße?
Egal wie, es geht hier und heute weniger um Harold Fry, sondern um sein Ziel, um die Person, für die er den weiten Weg auf sich genommen hat, es geht um Queenie Hennessy.
Mein erster Gedanke, als ich den Roman sah: Den mag ich unbedingt lesen. Mein zweiter Gedanken: Hoffentlich ist dieser Roman kein Gegenstück, welches die Autorin nur geschrieben hat, um im Gespräch zu bleiben, um an die Erfolgswelle anzuknüpfen.
Mit gemischten Gefühlen begab ich mich zwischen die Seiten des Romans. Allerdings nicht alleine, denn ich nahm an der Leserunde auf Lovelybooks teil.
„Der nie abgeschickte Liebesbrief an Harold Fry“ (Fischer KRÜGER) beginnt mit dem ersten Brief, den bereits jeder, der mit Harold Fry gelaufen ist, kennt. Queenie schreibt ihm nach vielen kontaktlosen Jahren von ihrer Krebserkrankung, dankt für die Freundschaft und verabschiedet sich.
„Ach wäre das Gedächtnis doch nur eine Bibliothek, wo alles an seinem Platz steht! “ (Seite 72)
Anschließend geht es mit dem zweiten Brief weiter, welcher sich über knapp 400 erstreckt. Irgendwie habe ich mit einem richtigen Brief gerechnet, der sich durch das ganze Buch zieht. Eine große Lebensrückblende habe ich erwartet.
Rachel Joyce erzählt Queenies Geschichte in vielen Kapiteln, welche locker beschrieben sind. Sie lässt uns Leser Blicke in Queenies Brief werfen, lässt uns an den Gesprächen und am Leben der Hospiz-Bewohner teilhaben und natürlich auch an Queenies letzten Lebtagen. Ihre Gedankenwelten erstrecken sich vor uns in allen Lebensfarben – hell, dunkel, aber auch bunt.
Queenie Hennessy trägt Geheimnisse in sich, Schmerz, aber auch ungelebte Lebensmomente, die ihr im Hospiz durch den Kopf schwirren. Sie möchte Harold Fry endlich alles erzählen und ihm diesen Brief geben, wenn er bei ihr ankommt. Sie beginnt das Warten mit Schreiben zu überbrücken. Sie darf nicht sterben bis er kommt…
Der Roman plätschert dahin, aber aus meiner Sicht muss er auch ruhig und leise sein. In einem Hospiz, wo alle dem Tod entgegen leben, kann nicht das Leben blühen. Dennoch kann es stellenweise fröhlich sein und die Patienten auf Queenies Station machen das beste aus ihrer Situation und sorgen für den ein oder anderen lustigen Moment.
Die starke Verknüpfung mit Harold Fry ist an jeder Stelle spürbar und ich mag es sehr, meine Gedanken zum anderen Werk gleiten zu lassen. Während des Lesens und gerade in der Diskussion mit anderen Lesern fragte ich mich, ob es gut ist, den ersten Roman nicht zu kennen bzw. ob es besser wäre, dieses Werk zuerst gelesen zu haben. Auf jeden Fall können sich Rachel Joyce Erstleser freuen, da diese die Möglichkeit haben, beide Teile zeitnah zu lesen.
„Man kommt nicht an sein Ziel, wenn man ständig auf Achse ist, selbst wenn die Reise nur aus Stillsitzen und Warten besteht. Ab und zu muss man innehalten und die Aussicht bewundern, eine kleine Wolke und einen Baum vor dem Fenster. Man muss sehen, was man vorher nicht gesehen hat. Und schlafen muss man auch.“ (Seite 136)
Anfangs empfand ich die Sprache als sehr holprig und gewöhnungsbedürftig, was sich aber nach einigen Seiten änderte. Der Roman steigert sich immer mehr und gewinnt an Fahrt und die vielen ungeordneten Rückblenden puzzeln sich nach und nach zusammen.
Queenie ist mir sehr ans Herz gewachsen und ich habe ihr gern zugehört. auch wenn sie sich stellenweise stark in das Opferrollenkostüm begeben hat. Ihr fehlte im Leben eine große Portion Mut. Fast noch enger als Queenie sind mir die Hospzibewohner ans Herz gewachsen. So herrlich schrulligen Charakteren bin ich selten begegnet. Sie haben dem Roman den Extraschliff gegeben.
Die Covergestaltung finde ich absolut schön und passend. Harolds und Queenies Schuhe – zwei Leben, zwei Wege, zwei Persönlichkeiten. Auch farblich harmonieren beide Bücher, was mir sehr gefällt, denn das Auge liest bei „Mehrteilern“ mit.
Am Ende des Romans überlegte ich, welchen Teil ich lieber mag – ehrlich gesagt, mag ich beide gleich, da sie so „andersgleich“ sind.
Ganz am Ende flossen bei mir die Tränen – ein Ende was in der Form nicht absehbar ist, ein Ende mit dem Rachel Joyce all ihre Leser überrascht. Mich hat sie damit traurig und doch befriedigt zurück gelassen, einige andere Leser hat sie damit schwer enttäuscht.
„Es gibt unterschiedliche Arten zu lieben…Man kann mit Vollgas lieben, mit viel Lärm, oder man kann leise lieben, beim Abwasch. Man kann sogar einen Menschen lieben, ohne dass er es weiß.“ (Seite 237)