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Pilgern…ein langer Traum von Literatwo.

Bis zur Verwirklichung halten wir uns an Büchern fest, in denen es um eines unserer absoluten Herzensthemen geht. Doch Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry (Krüger – Fischer Verlag) sollte ich wohl vorerst alleine gehen, bzw. lesen. Mr. Rail hielt irgendetwas davon ab, nicht gleich mitzulaufen, er sträubte sich erst gegen das Buch, da irgendwo, irgendwer, irgendwas mal etwas Negatives gesagt haben sollte. Wie auch immer, ich begab mich auf den Weg zu Harold Fry und schrieb Mr. Rail Postkarten um ihn davon zu berichten, wie es sich mit Harold läuft…

Telefonieren ging dann doch schneller, gebe ich zu und dann kam der Tag, an dem er mich überraschte und einfach mitlief. Diese Überraschung ist ihm mehr als gelungen, denn am Abend vorher schrieb er mir gefühlte hundert Mal, dass er jedes Buch mitliest, nur nicht das und zog lauter Argumente die dagegen sprechen an den Haaren herbei. Ich war traurig, ärgerte mich und es fühlte sich alles sehr komisch an. Und dann? Überraschung – das war Spaß, natürlich laufe ich mit dir mit. Was hab ich mich gefreut, hätte es mir auch kaum anders vorstellen können, ohne ihn zu laufen-lesen.

Harold Fry wohnt mit seiner Frau Maureen in einem kleinen Haus in Kingsbridge, Südengland. Sein Leben lebt sich dahin, mehr allein, als zusammen. Seit Jahren schon zieht er sich in seine Welt zurück, denn Maureen scheint ihn nicht mehr wirklich wahr zu nehmen. Er stellte sich schon selbst die Frage, wer er eigentlich ist, denn Maureen übernimmt alles, ist umtriebig und vor allem beschäftigt sie sich fast ausschließlich mit ihrem gemeinsamen Sohn, der gar nicht mehr bei ihnen lebt.

Ein Brief sorgt für eine Unterbrechung im sonst faden Leben des Paares. Er stammt von Queenie Hennessy aus dem Bernardino-Hospiz in Berwick- upon- Tweed, Nordenglang. Queenie war eine sehr gute Freundin von Harold, doch der Kontakt brach damals, mit dem Verlassen der Brauerei in der sie damals gemeinsam arbeiteten, ab. Jetzt meldet sich Queenie, aber mit keinen guten Nachrichten, denn sie hat Krebs und wird bald sterben. Sie möchte sich von Harold verabschieden. Harold ist geschockt und macht sich umgehend Vorwürfe, warum er sich nicht eher bei ihr gemeldet hat, nachgeforscht hat wo sie lebt und wie es ihr geht.

Er antwortet prompt und macht sich an einem Vormittag, kurz nach elf, auf den Weg zum Briefkasten. Harold war zu schnell an seinem Ziel, wo er es doch gerade genoss, draußen zu sein, der alltäglichen Eintönigkeit zu entfliehen. Er läuft weiter bis zum nächsten Briefkasten und auch an diesem vorbei, zur Tankstelle um dort einen kleinen Imbiss einzunehmen.

„Man muss daran glauben, dass ein Mensch wieder gesund werden kann. Unser Geist ist viel größer, als wir begreifen. Wenn wir fest an etwas glauben, können wir alles schaffen.“

Glaube – das Wort aus dem Mund des Mädchens an der Tankstelle setzte sich in seinem Kopf fest. Trotz seiner fünfundsechzig Jahre fühlte er sich voller Energie und konnte sich selbst nicht stoppen, ein Gedanke brannte sich in seinem Inneren fest. Eigentlich wollte er auch nicht anhalten, bei keinem Briefkasten ankommen und so begann er einfach weiter zu laufen.

Jeder Schritt brachte ihn weiter zu seiner im Sterben liegenden Queenie Hennessy und genau das teilte er der Schwester im Krankenhaus mit. Er würde laufen, den ganzen Weg zu ihr und in dieser Zeit dürfe sie nicht sterben. Sie soll warten, warten bis er bei ihr ist.

„Ich breche jetzt auf. Solange ich gehe, muss sie leben. Bitte sagen Sie ihr, dass ich sie dieses Mal nicht im Stich lassen werde.“

Jedes Wort was wir lesen, ist wie ein Schritt auf dem Weg neben Harold Fry. Die Freiheit ist spürbar, voller Energie sind auch wir und mit jedem Schritt lässt uns Harold auch an seinen Gedanken teilhaben. Seine Gedankenwelten drehen sich vorwiegend um sein Ziel, er möchte ankommen, bevor es zu spät ist. Ein grauenvoller Gedanke, wenn Queenie nicht warten würde, wenn sie gehen würde, ohne sich noch einmal gesehen, ohne nicht noch ein Wort miteinander gesprochen zu haben. Er glaubt fest dran, dass sie nicht sterben wird und beginnt jeden Tag voller Kraft, um sein Ankommen möglichst bald zu realisieren.

Manchmal reicht es eben nicht, nur einen Brief einzuwerfen…

Ein weiter Weg von Südenglang bis in den Norden, ein weiter Weg um seine Gedanken kreisen zu lassen, ein weiter Weg um eine neue Seite des Lebens zu entdecken.

Vor allem blickt Harold Fry auch zurück. Selbst wenn man Richtung Zukunft geht oder vielleicht sogar deshalb, schaut man unweigerlich zurück, man muss es förmlich. Er sieht seine Ehe, die Entwicklung in all den Jahren und dass er selbst auf der Strecke geblieben ist. Es gab keine Lebenshöhepunkte mehr, der Alltag umhüllte ihn, drängte ihn an die Wand, vor allem jetzt in der Zeit der Pensionierung. Außerdem begleiten ihn auf seiner Reise viele Gefühle, vorwiegend die Angst vor dem zu spät kommen.

Während wir mit Harold Fry laufen, die Freiheit spüren und es genießen ganz still in seiner Nähe zu sein, lassen wir auch Maureen nicht außer Acht. Sie wusste nicht, dass Harold einfach nicht wieder kommt und sich auf den Weg zu einer Frau, die er nicht mal annähernd so lange kennt wie sie selbst, macht. Maureen versucht vor allem vor dem neugierigen, aber liebenswerten Nachbarn Rex, zu vertuschen, dass Harold weg ist. Sie verleugnet ihn und lenkt sich selbst mit jeder Menge Hausarbeit von ihren Gedanken und Gefühlen ab, die sie immer mehr umtreiben.

Parallel dazu setzt sich Harold mit den Gedanken von Maureen auseinander, er wüsste gern, was sie genau jetzt über ihn denkt. Sie wird sich auf der einen Seite über ihn lächerlich machen, ihn unterschätzen und nicht nett über ihn reden, auf der anderen Seite aber wird sie doch perplex darüber sein, was er tut.

„Wenn wir nicht ab und zu etwas Verrücktes tun, können wir uns gleich begraben lassen.“

Harold läuft und läuft – seinem Ziel entgegen. Unerschütterlich, auch wenn seine Beine, seine Füße, sein ganzer Körper stellenweise so geschwächt sind, dass er eigentlich nicht weiter laufen dürfte. Er macht das erste Mal in seinem Leben etwas wirklich verrücktes, ohne sich abzumelden folgt er seinem Bauchgefühl.

Wir halten Abstand und beobachten Harold und genießen selbst das Laufen. Wir sehen Harold aufblühen, wichtigen Menschen begegnen, gute Gespräche führen und einfach bei sich selbst und seinen Gedanken sein. Auf seiner Reise erfahren wir die wichtigsten Etappen seines Lebens, er setzt Wegmarken mit den Namen Ehe, Leben, Sohn, Beruf und einigen mehr, die am Schluss seinen Weg bis ins Krankenhaus zu Queenie ergeben. Das Laufen selbst, hilft auch ihm sich zu befreien und um das Sonnenlicht wieder auf seine Seele scheinen zu lassen.

Einfach loslaufen…welch ein schöner Gedanke, ein Gedanke der sich in unsere Köpfe gebrannt hat.

Man sieht sich immer zweimal im Leben…und vielleicht braucht die Welt auch einfach ein bisschen weniger Vernunft und ein bisschen mehr Glauben.

Uns hat „Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry“ beeindruckt, Welten in verschiedene Richtungen geöffnet und uns auf unterschiedlichen Ebenen umfangreich fasziniert. Ein Roman welcher wirklich bis zum Schluss realistisch ist und zu Tränen rührt. Tränen die sich vermischen – Freudentränen, Tränen vor Rührung, Tränen vor Trauer, Tränen…

Ich bin immer noch froh, dass Mr. Rail mit mir, wie sonst auch, mitgekommen ist. Gerade pilgern und wir getrennt – das passt nicht. Wir stellten uns beide während des Lesens Fragen und ließen unseren Gedanken freien Lauf und einige Fragen und Gedanken von Mr. Rail dürfen hier nicht fehlen…

Wie geht man mit einem Buch um, wenn man bemerkt, dass die Summe der Parallelen zum eigenen Leben aus einem Roman ein greifbares Leseereignis entstehen lässt? Was passiert, wen man aus gefühlter innerer Betroffenheit denkt, dass es besser gewesen wäre, dieses Buch nie zur Hand genommen zu haben? Was, wenn man selbst im Lauf seines Lebens oft an der Schwelle stand, zu realisieren, dass man vieles zu spät oder wichtiges nicht früh genug getan hat?

Ich habe Harold Fry gelesen, obwohl es mir nicht leicht gefallen ist. Die Gedanken schweiften andauernd ab und Ereignisse aus meinem Leben standen greifbar vor meinem geistigen Auge. Meine ehemalige Mitarbeiterin und gute Freundin Annette begleitete mein Lesen. Unser Abschied in einem Hospiz; ihr Versprechen, dem Krebs so lange zu trotzen, bis ich von einer Reise zurückkomme; unterwegs die Nachricht zu erhalten „Sie hat einfach losgelassen und wird morgen beigesetzt“; es nicht mehr zu schaffen, rechtzeitig am Grab zu stehen und die Aussage ihres Sohnes „Sie hat gewartet bis du fort warst… sie wollte dich nicht noch mehr belasten“. All dies verschleierte auf vielen Seiten des Romans mein Lesen.

Zu spät war ich dran… Weder zu Fuß, noch mit dem Auto hätte ich es geschafft und doch fühle ich noch heute den damals erlebten deutlichen Drang, einfach loszulaufen um es zumindest zu versuchen. Zu spät. Und letztlich auch nur ein Detail aus dem Roman, das mich getroffen hat, wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Wie man damit umgeht? Schwer zu sagen… unter dem Strich bleibt die Erkenntnis, dass es wichtig ist und war, nichts unausgesprochen zu lassen. Die Zeit zu nutzen, die bleibt und nicht vor den unbeantworteten Fragen des Lebens davonzulaufen.

Ein großes Buch. Für mich sogar ein Meisterwerk. Keine religiösen Verniedlichungen, keine romantisierenden Bilder aus einem Sterbehospiz. Der Mensch steht mit all seiner Nacktheit im Mittelpunkt und doch ist er nicht hilflos. Er kann nicht beeinflussen, den Lauf des Schicksals nicht ändern, aber in den schmalen Grenzen des Seins kann er mehr bewegen, als er sich oft zugesteht.

Wir sind Harold Fry auf Schritt und Tritt gefolgt – allerdings mit ein wenig Abstand. Wir wollten ihn nicht stören und selbst auch nicht gestört werden. Dieser Leseweg war wohl einer der wichtigsten unseres Lebens!

6 Comments on [Pilgerreise] Literatwo läuft mit Harold Fry

  1. Ein schöner und emotionaler Bericht!

    Doch ich habe Angst vor solchen Parallelen. Freiwillig möchte ich nicht an meine schlimmen Erfahrungen erinnert werden…
    Aber jede(r) geht anders damit um und das ist auch gut so.

  2. Wie gesagt: ich hatte manchmal das Gefühl, man hätte mich vor dem Buch warnen können. Aber es ist eine sehr interessante Leistung dieses Romans, die eigenen Erinnerungen nicht dominant werden zu lassen, da die eigenständige Geschichte einfach zu brillant ist.

    Und dies wirklich ohne jegliches Moralisieren oder einen Hauch von Pathos. Leben pur…

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