„Die Vergangenheit wirft ihren Schlagschatten auf gegenwärtiges und zukünftiges Gelände. Vergegenkunft nannte ich später meinen Zeitbegriff…“
Günter Grass „Schreiben nach Auschwitz“ – 13. Februar 1990
Seit wir gemeinsam „Gegen das Vergessen“ der Opfer des Holocaust schreiben, werden wir Literatwos ständig mit diesem zeitlosen Zeitbegriff konfrontiert, da wir den historischen Schlagschatten des Erinnerns gerade in Büchern immer wieder spüren. Manchmal sind es Namen, oftmals Orte und immer wieder auch Gegenstände, die uns einholen und den Blick in die Vergangenheit richten lassen. Einer dieser Gegenstände ist ein Ring, über den ich vor kurzem schrieb. Jener Ring eines gefallenen Soldaten, der nun in meinen Händen liegt und damals alles veränderte: Weihnachten 1944…
Schlagschatten… Aus ihnen möchten wir selbst täglich lernen und anderen Menschen immer wieder vor Augen führen, dass sich Automatismen der Vergangenheit nur dann wiederholen können, wenn wir sie bis heute nicht verstehen. Erinnern heißt für uns auch Verhindern! Im Schreiben hier, in Gesprächen mit Freunden und im Dialog mit Jugendlichen an Schulen.
Wir wollen nicht vergessen und versuchen anhand ausgewählter Literatur, ganz besonders aus dem Bereich Jugend- und Kinderbuch, konstant dem Erinnern ein Gesicht zu geben. Wenn ihr das Gestern vergesst, werdet ihr das Morgen nicht bewusst erleben!
So öffnen wir anlässlich des Holocaust Gedenktages 2014 einen ganz besonderen Koffer. Er gehörte einst einem kleinen jüdischen Mädchen und ist augenscheinlich der letzte Gegenstand, der an dessen Existenz erinnert. Ansonsten ist er absolut leer. So wie die Erinnerung. Die Geschichte dieses Koffers beginnt vor langer Zeit mit der Deportation einer gewissen Hana Brady. Aber eigentlich beginnt seine Geschichte vor wenigen Jahren in Tokio….
„Hanas Koffer“ von Karen Levine (Ravensburger)
Fumiko Ishioka wurde 1998 Leiterin eines kleinen Museums in Tokio. Die Mitarbeiter des „Tokyo Holocaust Center“ hatten sich zur Aufgabe gesetzt, japanische Schulkinder über die Verfolgung und Vernichtung millionenfachen Lebens in der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland zu informieren. Fumiko traf sich mit Überlebenden und war von Anfang an bestrebt, dem Museum mehr Leben zu verleihen und den Kindern das Erinnern näher zu bringen. Erst im Jahr 2000, und nach vielen erfolglosen Versuchen, erhielt sie ein Paket aus dem „Auschwitz-Museum“.
Der Inhalt: Ein Kinderstrumpf und ein Schuh, ein Kinderpullover, ein Behälter mit der Aufschrift ZYKLON B und ein Koffer, der mit den Worten „Hana Brady, 16. Mai 1931 – Waisenkind“ gekennzeichnet war. Hanas Koffer. Und obwohl dieser Koffer unscheinbar aussah, öffnete er mit seiner bloßen Anwesenheit die Tür zu seiner vergessenen Besitzerin. Die japanischen Kinder hatten endlich ein greifbares Zeichen aus der Zeit des Holocaust – sie erkannten, dass jene Hana ebenfalls ein Kind war, als sie mit 13 Jahren in Auschwitz ankam. Und so rückte jenes unbekannte und gesichtslose Mädchen in den Mittelpunkt einer intensiven Spurensuche.
Inspiriert von den Fragen der Kinder und unterstützt durch eine kleine Gruppe von Schülern, die sich selbst „Die kleinen Flügel“ nannten, begann Fumiko Ishioka auf eigene Faust zu recherchieren. Reisen nach Auschwitz und Theresienstadt, Besuche in einigen Museen und Archiven brachten sie dem unbekannten Mädchen Schritt für Schritt näher. Sie entdeckte Zeichnungen mit Hanas Unterschrift, die während des Aufenthaltes in Theresienstadt entstanden sein mussten und jedes neue Detail diente als Triebfeder für weitere Reisen „Gegen das Vergessen“.
Der Koffer war der Auslöser. Die Aufschrift, das einzige greifbare Indiz und doch ließen sich die japanischen Schüler und die Leiterin des kleinen Holocaust-Museums nicht entmutigen. Der Durchbruch gelang, als man eine Liste fand. Eine jener berüchtigten Listen der Nazis, auf denen sie Namen und Zielorte der deportierten Juden dokumentierten und auf der Liste mit Hanas Namen fand sich ein zweiter Name… der ihres Bruders Gerorge. Und das Besondere an diesem Namen: er war nicht abgehakt worden, was vielleicht bedeutete, dass er Auschwitz nie erreicht hatte.
Konnte das bedeuten, dass er den Holocaust überlebt hatte? Konnte es sein, dass er vielleicht noch lebt?
Am Ende aller Recherchen steht ein Brief Fumikos nach Kanada. Der Adressat ein gewisser George Brady und der Inhalt eine aufrührende Bitte, sich mit ihr in Verbindung zu setzen, wenn er tatsächlich der Bruder von Hana wäre. Nun konnte man in Japan nichts weiter tun, als zu warten und zu hoffen, dem Geheimnis des Koffers endlich einen bedeutenden Schritt nähergekommen zu sein.
Karen Levine beschreibt in ihrem bewegenden Buch „Hanas Koffer“ die Geschichte dieser Spurensuche auf beeindruckende Art und Weise. Sie nähert sich der Neugier der Kinder in Tokio ebenso behutsam an, wie jener kleinen Hana, der die ganze Spurensuche galt. Das Ergebnis ist berührend, verstörend und hoffnungsvoll zugleich. Denn das Wunder trat tatsächlich ein. George Brady antwortete und er schrieb nicht nur einen emotionalen Brief an die Kleinen Flügel, er legte auch die Geschichte seiner Schwester und einzigartige Bilder von Hana bei. Er öffnete sein Herz und seine Geschichte für die Kinder, die seine Schwester nicht vergessen wollten.
Und so öffnet sich auch für uns Leser die Lebensgeschichte einer verfolgten Familie, die zur falschen Zeit am falschen Ort lebte. Einer jüdischen Familie, die in die Fänge der Nazis geriet und dem Holocaust gnadenlos ausgeliefert war. Das Schicksal der beiden Geschwister trifft den Leser auf jeder Seite ins hilflose Herz und doch zeigt das Buch, dass nur das Vergessen das endgültige Todesurteil für ein Menschenleben bedeutet. Die Kleinen Flügel und Fumiko Ishioka haben ihre Schwingen über die Welt ausgebreitet und einem vergessenen Schicksal ein Gesicht gegeben – Karen Levine hat dieser Geschichte in einer für Kinder ab 10 Jahren angemessenen Form einen ewigen Platz in unserer Erinnerung gegeben. Der Ravensburger Verlag hat eigens Unterrichtsmaterial zum Buch veröffentlicht und es ist für uns einer der größten Anwärter auf die Bezeichnung: Pflichtlektüre!
Hana Brady war erst 13, als sie am Ende ihres kurzen Lebens in Auschwitz vergast wurde. Sie gehört zu den vielen Millionen Opfern eines unvorstellbaren Massenmordes und sie hatte noch so viel Leben vor sich, das nicht gelebt werden durfte. Doch sie hatte einen Wunsch: sie wäre so gerne Lehrerin geworden und hätte gerne Kinder unterrichtet. Dieser Wunsch wurde ihr von einer Museumsleiterin, den Kleinen Flügeln, vielen Kindern weltweit und einer vorzüglichen Autorin erfüllt. Hana lehrt die Kinder der Welt, dass sich Auschwitz nicht wiederholen darf. Ihr Koffer reist durch die Welt und erzählt ihre Geschichte.
Die Sinnlosigkeit des Sterbens in Vergessenheit wurde diesem kleinen Mädchen genommen. Es war die vielleicht schwerste Last, die Hana Brady zu tragen hatte.
„So wird meine Rede zwar ihren Punkt finden müssen, doch dem Schreiben nach Auschwitz kann kein Ende versprochen werden, es sei denn, das Menschengeschecht gäbe sich auf.“
Günter Grass „Schreiben nach Auschwitz“ – 13. Februar 1990
Diesem zeitlos magischen Satz unseres Literatur-Nobelpreisträgers schließen wir uns lebenslänglich an. Dem Erinnern neue Dimensionen, dem Gedenken Farbe und Flügel verleihen, und dies nicht nur im Internet sondern auch im Dialog mit der Jugend von heute, dem haben wir uns verschrieben. Wir danken an dieser Stelle unseren Wegbegleitern und allen Verlagen, die dieses ehrgeizige Projekt bereits seit mehr als drei Jahren mit unfassbarem Engagement unterstützen.
Literatwo schreibt weiter „Gegen das Vergessen“ der Opfer jeglicher Verfolgung aus politischen, religiösen oder ethnischen Gründen. Wir kämpfen mit unseren Waffen für das aufrechte Gedenken an die Opfer des Holocaust und erinnern an jene, deren Auslöschung ideologisches Programm war und ist. Wir gehören keinem Menschengeschlecht an, das sich aufgegeben hat… Wir sind gerade erst aufgestanden!
Arndt Stroscher & Bianca Raum
Literatwo
Ein mehr als persönlicher Nachtrag sei nach diesem persönlichen Text noch gestattet. Das Schicksal hat Hana Brady noch mehr als nur durch dieses Buch mit Literatwo verbunden. Ebenso wie bei Bianca fällt Hanas Geburtstag auf einen 16. Mai. Nur eben genau 54 Jahre, bevor auch Bianca das Licht der Welt erblickte. Dieser Geburtsagsverbundenheit wird zukünftig bei uns an jenem magischen Tag dadurch gedacht, dass wir Hanas Wiegenfest bei uns feiern. Leider hat sie nicht viele Geburtstage feiern können, aber wir werden es ihr schön machen.
Versprochen, Hana…
Vielleicht ist Udo LINDENBERG nicht so die Antwort auf diesen Beitrag. Ich sage aber: DOCH! Sie ist es. Hanas Koffer erinnert mich an Lindenbergs ATLANTIC AFFAIRS. In dieser Show geht es um die emigrierten Künstler, viele davon jüdisch.
Dieser Song passt. Lindenberg hat ihn dieser Show verwendet.
Es ist keine Antwort… es fühlt sich gerade an, wie das fehlende Glied in einer Kette des Erinnerns… Danke für dieses Video, das wir phne dich nie entdeckt hätten…
Mehr als bewegend!!!
Immer wieder gern.
Ich habe irgendwo ein Video der Bühnenshow ATLANTIC AFFAIRS. Aber hier möchte ich noch einen Beitrag verlinken.
Sehr genial… danke 😉
Danke für Euer Tun!