
Wenn man wie ich den „Ulysses“ von Joyce lesen und sich durch unzählige verworrene Episoden hindurchschlängeln musste, hat man erstmal genug von Erzählexperimenten, von den Anstrengungen des Romans des 20. Jahrhunderts, Wirklichkeit abzubilden. Doch irgendwie war da ja noch etwas, es schwirren Wortfetzen wie „The Hours“ oder auch Sätze wie „Mrs. Dalloway sagt, sie wolle die Blumen lieber selber kaufen.“ umher und lassen das Leserherz nicht mehr los. Seit langem schon wollte ich den wohl berühmtesten Roman von Virginia Woolf lesen, seit langem geisterte eine Vorstellung von diesem in meinem Kopf herum, die bestätigt oder revidiert werden wollte. Wird der Roman ähnlich langweilig wie „Ulysses“, ähnlich verworren, ähnlich erzählerisch anstrengend?
Nun endlich konnte ich ihn in der neuen Fischer-Klassikausgabe lesen und meine Fragen beantworten.

Ja, der Roman ähnelt „Ulysses“ in seinem erzählerischen Bemühen, die menschliche Gedankenwelt abzubilden. Wie auch Joyce erzählt Woolf die Geschehnisse eines Tages, wobei die Figur der Mrs. Dalloway einen Schwerpunkt einnimmt. Immer wieder taucht man unvermittelt in die Gedanken dieser Frau ein, erfährt von Vergangenem, von der Liebe, von Selbstzweifeln, ja sogar von Selbstmordgedanken. Doch nicht nur ihre Überlegungen erfährt der Leser, sondern auch die vieler anderer, mit denen Mrs. Dalloway sich unterhält oder denen sie zufällig bei einem Spaziergang begegnet. Unvermittelt wechseln die Gedanken von einer zur anderen Personen und geben einen kurzen Einblick in eine neue Perspektive.
Ja, das macht das Lesen wie auch beim „Ulysses“ anstrengend. Man benötigt einige Zeit, um sich einzulesen. Woolfs Roman ist keiner zum Entspannen oder Sich- Berieseln- Lassen, sondern man muss sich das Lesen erarbeiten, sich Stück für Stück in die unterschiedlichen Perspektiven einfinden.

Auch wenn sich beide Romane in dieser Hinsicht beinahe gleichen, liegt der Unterhaltungswert bei „Mrs. Dalloway“ jedoch deutlich höher als bei Joyce. Man hat hier nicht den Eindruck, dass das Erzählte nur Mittel ist, die unterschiedlichen Erzählweisen zu illustrieren. Woolfs Roman veranschaulicht vielmehr die komplexe Gedankenwelt einer Frau vor dem Panorama einer von Krieg und Zerstörung gebeutelten Generation, denn neben Mrs. Dalloway nimmt der Soldat Septimus Warren Smith, der traumatisiert aus dem Krieg zurückgekehrt ist, eine weitere wesentliche Stellung im Roman ein.
Diesen Roman, wenn auch verbunden mit einigen Anfangsschwierigkeiten, habe ich nicht bereut zu lesen. Man muss sich auf die hohen erzählerischen Ambitionen einlassen, sich seinen Platz in diesem Roman erarbeiten. Dann kann es sogar geschehen, dass man Seite für Seite immer mehr in die Gedankenwelt und Psyche der Figuren eintaucht, darüber beinahe die Zeit vergisst und zum Glück vom Glockenschlag des Big Ben im Roman in die Wirklichkeit geholt wird.
Denn nicht umsonst wollte Woolf ihren Roman eigentlich „The Hours“ nennen.
Euer (Klassiker-) Lesebienchen
Hey,
Respekt, dass du dich an diese beiden Klassiker rangetraut hast 😉 Ich traue mich das bisher nicht so ganz…
Liebe Grüße
Anna
Das Lesebienchen ist da echt ein „Klassiker“ und es geht weiter…bald…
Danke für deine Eindrücke….ich belasse es lieber weiter beim „(noch) nicht lesen“ 🙂
Ich (Binea) auch – Lesebienchen ist da Fachfrau 🙂