Wanhsinn – was kann dieser Typ schreiben und er ist noch so jung. Boahr – er hat es echt drauf, ich bin total fasziniert und berührt und aufgewühlt. Sagenhaft! Diese Sätze, diese geballte Gefühlsladung, die Wortgewalt. Irre!
Mit den Worten auf der Zunge bin ich nach dem Beenden des Romans durch die Wohnung getaumelt. Immer noch im Sog der Worte, dabei hätte ich fast nicht den Einstieg geschafft.
Gewaltige Poesie
Dabei ist der Klappentext doch gar nicht so schwierig:
„Der Brief eines Sohnes an die vietnamesische Mutter, die ihn nie lesen wird. Die Tochter eines amerikanischen Soldaten und eines vietnamesischen Bauernmädchens ist Analphabetin, kann kaum Englisch und arbeitet in einem Nagelstudio. Sie ist das Produkt eines vergessenen Krieges. Der Sohn, ein schmächtiger Außenseiter, erzählt – von der Schizophrenie der Großmutter, den geschundenen Händen der prügelnden Mutter und seiner tragischen ersten Liebe zu einem amerikanischen Jungen.“
Keine Ahnung, wie ich darauf kam, dass es sich um drei parallele Handlungsstränge handeln würde und warum ich die ersten Seiten wie eine kleine Bruchlandung empfunden habe. Ich kam mir vor, als ob ich über eine Pflastersteinstraße fahre, ungewiss, wie sich die nächsten Meter anfühlen werden. Und dann war ich drin, im Roman vom vietnamesischen Autor Ocean Vuong, der von Anne-Kristin Mittag übersetzt wurde und das sogar ziemlich schnell, denn in den USA ist das Buch auch 2019 erschienen.
„Weil Freiheit, so heißt es, nur der Abstand zwischen dem Raubtier und seiner Beute ist.“ (Seite 11)
Auf Erden sind wir kurz grandios
Dann ging es Schlag auf Schlag und die intensiven Auszüge ohne Raster wandelten sich in eine Art Puzzle und ich setzte Puzzleteil an Puzzleteil und markierte mir immer mehr Sätze. Doch ich musste auch nach einigen Kapiteln pausieren, so sehr haben mich die Worte bewegt. Es mag sein, dass ich unnormal viele Sätze angestrichen habe, erschlagen von so viel Poesie und Bildgewalt, fühlte ich mich dennoch nicht.
Ich bin durch mein Bücherregal gestöbert, um vom Lesegefühl her ähnliche Bücher zu finden und doch bekomme ich Ocean Vuong in keine Genreecke gedrückt, geschweige denn verglichen. Der Inhalt ist intensiv und schmerzt. Sehr. Die Sätze schmerzen vor Schönheit. Die Worte haben mich erstarren lassen und ich musste oft schweigend in den blauen Himmel schauen.
Schmerzhafte Sätze
Die Geschichte von Little Dog, dem Erzähler, und seiner Familie ist heftig und kann nicht so nebenbei weggelesen werden. Die Themen sind groß und eng. Es ist kein einfacher Brief an seine Mutter. Ein nacktes Präsentieren seiner Gefühle, zum drogenabhängigen Freund Trevor. Es sind Worte über seine Mutter, seine Tante, seine Großmutter, Worte über ihre Kriegstraumata und Fremdenfeindlichkeit. Das Leben der Geflüchteten in großer Armut, heftige Gewalt, nicht nur in der Kindheit, bringt der 28-jährige Mann im Brief unter. Und es wird noch dunkler, vielleicht ab und an autobiografisch, richtig hell ist es selten bis kaum.
„Man sagt, nichts hält ewig, dabei hat man nur Angst, dass es länger hält, als man es lieben kann.“ (Seite 169)
Die Gefühle haben mich geblendet, ich habe die Worte gespiegelt und dabei war es mir egal, ob Ocean Vuong an vielen Stellen mehr ins Detail hätte gehen können. Ich war nicht fähig den Text zu analysieren, kritisch zu sein. Mir hat das gereicht, was mir der Autor geboten hat und das war jede Menge, nämlich keine Struktur, keine richtige Erzähllinie, sondern Situationsfetzen seines Lebens.
Intensive Lebensfetzen
Eben: „Auf Erden sind wir kurz grandios“ (Hanser)
„Ich vermisse dich mehr, als dass ich mich an dich erinnere.“ (Seite 178)
P.S. Vuong schreibt so wundervoll, dass ich mir sogar Worte aus seinen Dankesworten makiert habe:
„Danke, dass du mich immer daran erinnerst, dass Regeln bloß Tendenzen sind, keine Wahrheiten, und Gattungsgrenzen so wenig existieren, wie unsere Vorstellungskraft begrenzt ist.“ (Seite 233)