Von weitem sieht sie aus wie ein Junge. Alex, männliche Frisur, 30 Jahre, lässiger Gang, somit unsichtbar für Männer die nach Mädchen pfeifen. Sie bezeichnet sich als unreif, als Entwurf ihrer selbst. Sie ist gerade fertig mit ihrer Arbeit, verlässt die Hühnerfabrik um morgen wieder zu kommen. Mal sehen wie lange noch, bald wird ihr Vertrag beendet zu sein.
Bald wird sie weiter ziehen, irgendwo hin, das Bauchgefühl hat ihr bisher immer gesagt, ob es richtig ist und wo sie sich wieder niederlassen soll. Dorthin gehen, wo es ihr gefällt. Jetzt allerdings geht sie in ihr gemietetes Zimmer, in die Wohnung von Marlene, Bertrand und Gerard. Gerard ist Bertrands Bruder, Marlene hasst ihn, duldet ihn gerade so noch, nennt ihn Dödel, Strohkopf, Dummerjan, Trottel. Marlene hat viele Namen für ihn. Sie würde ihn, das lästige Anhängsel, am liebsten loswerden, vielleicht einfach aussetzen, er würde sich der Polizei sowieso nicht mitteilen können.
Alex nennt ihn in Gedanken Roswell, E.T. hätte auch gepasst, weil er so außerirdisch außergewöhnlich ist. Roswell ist ein Außenseiter, genau wie sie, er ist allein, aber wirklich einsam in sich gefangen, er kann nicht raus, er hat im Leben keine Perspektive. Roswell ist ein Monster, er ist einfach nur hässlich und sabbert, er plappert alles nach, kapiert nichts. Aber er hat Spaß am Leben, sehr großen sogar, aber eine große Doppelbelastung ist es dennoch – behindert sein und in diesem Umfeld leben.
Alex verbringt Tag für Tag mehr Zeit mit Roswell, findet sich abends bei ihm im Zimmer ein, hört ihm zu, schaut ihn an, redet mit ihm. Er spricht zwar undeutlich, aber er sagt Gedichte auf die ihm jemand erzählt haben muss, berührende poetische Worte aus seinem Mund, die er mit aller Kraft und Konzentration für sie sagen möchte. Sie hört ihm gern zu, korrigiert ihn, versucht ihm seinen Namen und die Adresse zu lernen, falls Marlene und Bertrand ihn wirklich aussetzen wollen.
„Ichheiff Scherard Schhanschheff.“ – „Sanchez!“ – „Mja: Schhanschhesss!“ – „Super!“ – „Sssuper!“ – „Dubissnett“
Alex möchte Roswell ein Stück Welt zeigen, den Kanal, den Wald, möchte ihm das Singen der Vögel hören lassen und fährt ihn im selbst gebauten Wagen spazieren. Ein Kraftakt, denn er ist schwer, muss immer warm eingepackt sein, verhält sich nicht immer vorhersehbar. Doch es gelingt und Alex sieht von weitem, die zwei männlichen Gestalten auf der anderen Kanalseite, die dort immer sitzen, einer bellt manchmal nach hier und wirft Bierdosen. Außenseiter, die täglich dort zu finden sind. Bei einem weiteren Spaziergang mit Roswell, passiert es, ein Angriff von zwei drogensüchtigen, heruntergekommenen und gewalttätigen Typen. Es passiert in der Nähe der zwei, die immer am Kanal sitzen und die gefährliche Situation beobachten und mit ihren Mitteln helfen. Cedric ist einer davon, der ist perspektivlos, arbeitslos und hoffnungslos verliebt in seine ehemalige Freundin. Oliver, Zackenbarsch genannt ist der andere, ein Bierliebhaber, der für sich die Aufgabe gefunden hat, Bierdosen in den Kanal zu werfen, er baut an seinem persönlichen Kanalprojekt. Er ist fett, redet kaum, aber er ist da und somit sind beide nicht ganz so einsam.
Außenseiter sind beide, der Weg in ein richtiges Leben ist schwer und auch nicht immer gewollt. Die Begegnung mit Alex und Roswell ist ein unglücklich-glücklicher Zufall und alle vier sind äußerlich wie innerlich einfach anders, so anders, dass sie untereinander völlig normal wirken und sind. Alex hat eine Idee, welche Unternehmung ihnen vielleicht ein Stück Zukunft im Zusammenhang mit Freiheit helfen könnte, ein Ausflug, ein großer Schritt in eine Lebensmitte.
Die Autorin Marie-Sabine Roger schreibt wahnsinnig berührend, Gedanken antreibend, fesselnd und teils sehr ironisch. Die Sprache ist einfach und doch hart und treffend, aber es sind angebrachte Worte, mit dunklem, aber sehr richtigem Humor. Sie hat vier Charaktere geschaffen, die in der Charakterbasis gleichen, sonst allerdings so weit auseinanderliegen, wie der Mond von der Erde entfernt ist. Alle aber sind Außenseiter. Ein Buch über die Toleranz, ein Buch über die äußerliche und innerliche Andersartigkeit. Frau Roger hält zu Anfang zwei Erzählstränge in der Hand, die sie nach und nach zu einem verbindet und währenddessen schwingt immer ein kleines Stück Hoffnung.
Ein Roman der Wärme ausstrahlt, der einfach im Herzen trifft, der gefühlig macht und zum Nachdenken anregt. Kurze Kapitel die jeweils ein ganzes Festmahl sind und langsam verdaut werden müssen. Roswell, derjenige der am Unnormalsten und doch am poetischsten scheint, eine Figur, der wir auf der Straße bereits schon einmal flüchtig mit unserem Blick begegnet sind, will kein Mitleid, weder vom Leser noch von seinen Mitmenschen, er soll verstanden und akzeptiert werden.
Marie-Sabine Roger verpackt die Figuren und ihre Gefühlswelten in leichte Worte, die dennoch großes Gewicht haben und die bildlichen Vergleiche schärfen die runden Ecken unvergesslich.