„Die Überlebenden“ – ein gutes Beispiel für einen harmlos aussehenden Roman, der es zwischen den Seiten allerdings in sich hat. Alex Schulman hat mich mit seinem Buch tatsächlich gefordert, um nicht zu sagen, dass ich lesend regelrecht Grenzerfahrungen machen durfte. Bedeutet: Dieser Roman tut wirklich weh, er ist sehr emotional, sehr hart und richtig, richtig gut. Intensive Lesestunden liegen hinter mir und ich kann die Post-its kaum zählen, so viele habe ich geklebt. Das liegt daran, dass Schulman nicht nur eine bewegende Geschichte von drei Brüdern erzählt, sondern mit poetisch-literarischen Worten um sich wirft.
Die Überlebenden
Wahrscheinlich ist der Roman noch bewegender, wenn man verinnerlicht, dass er zwar fiktiv ist, die Grundbausteine aber aus Schulmans Leben stammen. Er hat zwei Brüder, seine Eltern sind tot und seine Kindheit war keinesfalls leicht. Im Buch verarbeitet er und entwirft neu – wir Leser:innen wissen nicht, wie viel Wahrheit er uns wann zukommen lässt und müssen es letztendlich nicht wissen, da die Brüder Benjamin, Nils und Pierre uns auf ihre eigene Art faszinieren. Dabei ist nicht vorhersehbar, was als Nächstes passieren wird, zu unterschiedlich sind die Charaktere.
Alex Schulman benötigt keine 300 Seiten, um von Kindheit zu erzählen, die sich in ihren Ereignissen ständig steigert. Die Eltern verüben an ihren Kindern keine Gewalt im Sinne von körperlichen Schmerzen, aber das Verhaltensmuster aller Charaktere tut höllisch weh und ist im nächsten Moment wie Balsam für die Seele. Die Stimmung beginnt immer wieder zu kippen und doch ist es die Liebe, die hier und mal da aufblitzt.
Der Tod der Mutter ist es, der die drei Brüder wieder zusammen kommen lässt. Am Ort ihrer Kindheit, im Holzhaus am See, einsam und idyllisch zugleich. Benjamin, Nils und Pierre haben eigene Leben und schon damals war ein Miteinander kaum möglich. Der Kampf um die Liebe zu den Eltern hat sie nicht harmonieren lassen. Das gegenseitige Aufstacheln hat die Brüder robust gemacht. Der Vater und die Mutter haben mit ihrem Verhalten dafür gesorgt, dass alle drei eine dicke Hornhaut bekommen, die sich bei minimalen Berührungen jedoch schnell löst.
Benjamin ~ Nils ~ Pierre
Erschreckend, wie grausam Geschwister zueinander sein können und welche Abenteuer sie erleben und erleben müssen. Dabei ist es unter Brüdern wohl oft so, dass sie extreme Erfahrungen sammeln und auch auf extreme Momente spekulieren. Zumindest hat auch mein Vater mir einige Episoden aus seinem Leben mit Bruder erzählt. Benjamin, Nils und Pierre testen das Leben auf Haut und Knochen, experimentieren mit Tieren und setzen die Messlatten immer höher. Veganer:innen und Vegetarier:innen wird es kalt dem Rücken herunterlaufen. Aber keine Sorge, auch mich hat es geschüttelt und die Gänsehaut blieb nicht aus.
Satzblüten
Bei aller Grausamkeit – der Roman strotz vor Satzblüten, die beim Lesen innehalten lassen. Schulmans Worte schmelzen auf der Zunge oder bleiben im Hals stecken. Ein richtiges Wechselbad der Gefühle, das sich durch und durch lohnt. Kostprobe?
„Sie entschuldigen sich nicht, denn sie wissen nicht, wie das geht, es hat ihnen niemand beigebracht. (Seite 31)
„Die Zeit ist ein Kiesweg, hält man sich rechts, kann man auf der linken Seite sich selbst vorbeiziehen sehen.“ (Seite 152)
Der schwedische Autor Schulman schreibt zudem sehr intim, er scheut keine Grenzen und verbildlicht so oft wie möglich. Ich mag das sehr, denn umso näher ist man den Charakteren umso emotionaler und ergreifender werden die Szenen. Leben, Tod und die Nuancen dazwischen – eine Mischung, die Spuren hinterlässt und immer wieder erschreckt.
Und am Ende? Am Ende bleibt großes Augenwischen nicht aus, denn der schwedische Autor hat bewusst eine ganz unvorhersehbare Überraschung eingeflochten. Tatsächlich habe ich schwer geschluckt und jetzt verinnerliche ich viele Szenen noch mehr und ganz anders. Spätestens jetzt solltest du neugierig sein und ich kann dir versichern, dass sich das Lesen richtig lohnt.
Fordernd und tiefgründig
Fest steht, Schulmans Roman ist nichts für zarte Gemüter! Erst Recht nicht, wenn man eine sehr harmonische Kindheit hatte. Absolut harte Familienkost, schonungslos heftig, emotional fordernd und brutal. Ein richtig starkes Stück Buch – aufwühlend und literarisch zugleich. Im Jahr 2021 bisher das fordernste und tiefgründigste Leseerlebnis.
Den sympathischen Autor durfte ich letzten Sonntag online treffen. Seinen Roman „Die Überlebenden“ (dtv) habe ich im Buddy Read mit Kathrin (alittlebookconversation) gelesen. Wir haben uns kapitelweise ausgetauscht, was nicht nur unter uns interessant war, sondern das Leseerlebnis gesteigert hat. Du siehst, lesen lohnt sich so oder so und zum Austausch bin ich jederzeit verfügbar. 😉
Guten Tag, mit Interesse habe ich Ihre Worte über den Roman: die Überlebenden gelesen. Auch mich hat er fasziniert (habe ihn als Hörbuch gehört). Tagelang hat er mich beschäftigt, vor allem die Umstände des Todes der Schwester. Leider habe ich da Verständnisprobleme. Ich bin sicher, dass sie mir die Gedanken, die um den Roman kreisen, nehmen können. Ist die Schwester ertrunken?? — Ich glaube, dass ich diesen Roman – unabhängig von dem Verständnisproblem – ein 2. Mal hören werde. Er „verführt“ dazu. Mit herzlichem Grüssen silvia
ACHTUNG SPOILER DES ENDES
Liebe Silvia, vielen Dank für Ihren Kommentar und gut zu wissen, dass das Hörbuch auch zu empfehlen ist. Ja, ein sehr faszinierender Roman, der es auch echt verdient, doppelt gelesen zu werden und was für ein sympathischer Autor. Absolut. Nein, es gibt kein Verständnisproblem – tatsächlich ist die Schwester gestorben und der Hund existiert nicht. Übel und doch wahnsinnig gut umgesetzt, war nicht einfach für uns Leser:innen. Spannend, erschreckend und ganz stark. Viele Grüße zurück.