Es ist wenig verwunderlich, dass in „Erinnerung eines Mädchens“ (Suhrkamp) tatsächlich Erinnerungen von einem Mädchen zu finden sind. Zurückblicken, verarbeiten – um nichts anderes geht es in der Autobiografie von Annie Ernaux und man könnte sich fragen: was soll das? Warum diese vielen Worte? Was will die Autorin mit diesem Buch bezwecken?
Schon diese Fragen sind grandios, denn diese stellt sich Annie Ernaux am Ende des Romans, den ich sehr empfehlen kann, selbst und antwortet wie folgt:
Den Abgrund erkunden zwischen der ungeheuren Wirklichkeit eines Geschehens in dem Moment, in dem es geschieht, und der merkwürdigen Unwirklichkeit, die dieses Geschehen Jahre später annimmt. (Seite 164)
Erinnerung ~ Abründe
Diesen Abgrund ergründen wir mit ihr zusammen und stellen schnell fest, dass wir dabei auch unsere eigenen Abgründe erkunden. Es stechen zwischen Ernaux ihren Worten immer unsere eigenen Erinnerungen hervor, ob wir wollen oder nicht. So wird es auch für uns ein wenig unangenehm und peinlich und auch etwas (er)drückend, es sei denn, man kann eine weiße Weste vorweisen. Doch wie weiß ist schon richtiges Weiß?
Wann habe ich zuletzt ein so offenes, so intimes Buch gelesen? Annie Ernaux legt uns hier nicht nur ihre ersten sexuellen Erfahrungen mit 18 Jahren vor, sondern bezieht uns ganz nah mit in den Schreibprozess ein. Sie will sich so gut wie möglich erinnern, ihre Erlebnisse glasklar und ohne ausgelassene Details wieder geben. Die Scham, die Schmach, ihre Erinnerungen sollen uns nah gehen, vor allem aber sie selbst, heute 78 Jahre alt, bis an die Grenze bringen. Sie war 74 Jahre, als sie dieses Buch schrieb. Respekt! Gleichzeitig schmerzt aber auch, dass sie es erst jetzt schafft, ihre Vergangenheit aufzuarbeiten.
Während ich diese Zeilen tippe, frage ich mich, ob ich dieser Autobiografie überhaupt mit meinen laschen Worten gerecht werden kann. Vermutlich nicht, denn ich kann nicht in Worte fassen, wie grandios dieses Werk, ja, es ist ein Werk, geschrieben ist.
1958 ~ 2014
Warte, lass mich ein Zitat anführen:
Soll ich unter diesen Umständen das Mädchen von 58 und die Frau von 2014 zu einem „Ich“ verschmelzen? Oder, was mir – rein subjektiv – zwar nicht am stimmigsten, dafür aber am aufregendsten erscheint, beide voneinander trennen, sie in ein „sie“ und ein „ich“ aufspalten, um bei der Darstellung von Ereignissen und Handlungen bis zum Äußersten gehen zu können? Und das aufs Grausamste… (Seite 21)
Stark, oder? Das meine ich – sie lässt uns am Schreibprozess teilhaben, spricht immer mal wieder zu sich selbst, urteilt, prüft, intensiviert. Das ganze Buch ist ein Prozess und jetzt ACHTUNG – der Lesefluss wird nicht gestört, es gibt keine holprigen Wörter, trotz Anspruch ist es kein kompliziertes Lesen. Selbst das es keine Kapitel gibt, spielt überhaupt keine Rolle, denn es gibt größere Absätze. Doch eigentlich ist alles egal, denn wer sich gemeinsam mit Annie Ernaux in ihr früheres ICH zurück begibt, kann erst atmen, wenn er den letzten Satz gelesen hat.
Kleine Nutte ~ anständiges Mädchen
Es ist und bleibt seltsam, diese intimen Erfahrungen zu lesen. Vor allem, weil die Autorin so direkt mit ihrem ICH umgeht, ungeschönt erzählt, über die Annie von damals, über die kleine Nutte, das gefallene Mädchen und dann über die Annie der Gegenwart, über das anständige Mädchen, die Frau mit Lebenserfahrung. Ein Kraftakt der Autorin, ein eingestehen der Vergangenheit, ein reflektieren der eigenen Naivität, aber auch ein bestätigen der vielen Handlungen, die sie absichtlich so ausführte.
Ich bin überwältigt von so viel Offenheit, so direkten Worten im recht hohen Alter. Und ich bin schockiert von den Dingen, die ihr damals in der Ferienkolonie mit H. widerfahren sind, wie sie damit umging und wie stark sie diese Erfahrungen im Nachhinein gemacht haben. Trotz Mobbing, trotz Essstörung, trotz Schweigen und prägenden sexuellen Begebenheiten, ist sie aufrecht im Leben angekommen. Mit Wunden, tiefen Erkenntnissen – aber angekommen.
Ich behaupte, dass jede Frau ein Stück „Mehrwert“ in Ernaux Erinnerung findet und verneige mich dankbar.