Wildnis ist ein weibliches Wort ~ Abi Andrews

Raus in die Wildnis? Einmal ganz alleine nach Island, Grönland, Kanada und Alaska? Für viele ein Traum, für mich wäre diese Reise auch heute noch undenkbar. Ja, mich hat es vor 10 Jahren stark in die USA gezogen, ein Jahr Au-pair wäre schon toll gewesen – aber ganz alleine in die Wildnis und das mit 19 Jahren? Ganz bestimmt nicht. Autorin Abi Andrews hat ihre Protagonistin Erin diese Reise unternehmen lassen und ich habe mich gern angeschlossen – aus Abenteuerlust, aus Neugierde auf die Länder und all ihre Erlebnisse.

Erin ist anders als ihre Freundinnen, Erin ist nicht so, wie sich die Eltern ihre Tochter erhofft haben – Sie ist Feministin und sie will sich in ein großes Lebensabenteuer stürzen. Sie ist eine Frau, die gern aussteigen will – so wie die vielen Männer, die mit ihren Abenteuern Geschichte geschrieben haben. Aussteiger Chris McCandless zum Beispiel, einer von vielen Männern, von denen Erin fasziniert ist, denen sie nacheifern möchte.

Mountain Women

„Es scheint, als gäbe es in der Wildnis etwas Bedeutendes zu lernen, das aber ausschließlich Männern zugänglich ist. In der Wildnis bilden Männer ihr individuelles und männliches Selbst heraus – als stünde Frauen kein individuelles und authentisches Selbst zu. (Seite 11)

Erin hat einen fünf Punkte Plan und sie möchte sich ganz alleine auf den Weg machen. Es gibt genug Möglichkeiten, um nach Alaska zu kommen – laufen, trampen, via Fischerboot, Hundeschlitten etc. Abi Andrews Protagonistin ist mutig und beginnt ihre ganz persönliche Reise, auf der sie nicht nur sich selbst beweisen will, dass sie als Frau mit einem Mann mithalten kann. Sie möchte beweisen, dass Frauen genauso ausbrechen und aussteigen können und sie stellt immer wieder Vergleiche an. Erin konfrontiert sich mit der Geschlechterfrage, mit Geschlechtergerechtigkeit und vergleicht Männer und Frauen miteinander, die Geschichte geschrieben haben. Und es ist ihr Ziel, die Reise in einem Videotagebuch festzuhalten. Schafft Erin die Reise, ist sie der Sache gewachsen und kann sie selbst eine Mountain Woman sein?

Mich reizt die Wildnis sehr, ich mag Abenteuerberichte, erst Recht, wenn sie von einer Frau sind. Der Titel hat mich gelockt, das Cover hat mich magisch angezogen und ehe ich mich versah, steckte ich mitten im Buch und saugte Erins Erlebnisse auf.

Wildnis ist ein weibliches Wort ~ Abi Andrews

Wildnis ist ein weibliches Wort

„Wildnis ist ein weibliches Wort“ (Hoffmann & Campe) ist ein fiktionaler Roman, beim Lesen hat man aber das Gefühl, einen Tatsachenbericht zu lesen. Abi Andrews schreibt so spannend und so realistisch nah, das ich das oft vergessen habe. Das ich das Buch von der ersten bis zur knapp 400. Seite verschlungen habe, wäre gelogen. Aber gut zwei Drittel habe ich fast ohne Pause gelesen. Es ist so verdammt spannend, wie sich Protagonistin Erin allein durchkämpfen muss. Gerade wenn sie bei Männern im Truck mitfährt, ist die Gefahr groß. Erin zeigt immer wieder auf, dass wir Frauen in den Augen der Männer eben als leichte Beute empfunden werden, das wir Frauen eine Art Einladung an das männliche Geschlecht darstellen. Doch Erin hat auch unglaublich viele positive Erlebnisse! Wir tauchen mit ihr in die Welt der Wale ein und bis sie in die völlige Einsamkeit der Wildnis verschwindet, treffen wir noch einige Menschen, die zu Freunden, zu Mitreisenden werden.

Abi Andrews schreibt frisch, sehr bildhaft und einfach und lässt uns ganz nah an Erin heran. Es ist wirklich erstaunlich, wie nah ich selbst der Wildnis gekommen bin. Der Roman ist tatsächlich wie ein Abenteuerfilm, eine Art Roadmovie und ab und an spürte ich sogar selbst die Mutter Natur und sah Rentiere vor mir. Sagenhaft – wirklich ganz groß. Das letzte Drittel des Romans hat mich allerdings gebremst. Zwar erleben wir während Erins Reise nach Alaska schon den ein oder anderen Gedankensprung zu ihrer Reise, Forscherpersönlichkeiten oder wissenschaftliche Theorien. Doch am Ende wird der Roman dann immer wissenschaftlicher und somit trockener. „Erin geh endlich weiter…“ – ging mir oft durch den Kopf. Ich wollte das Abenteuer, wissen wohin es sie als nächstes verschlägt, wen sie trifft und ich wollte bald die pure Wildnis erleben. Nur Erin und ich – mitten in Alaska.

Island – Grönland – Kanada – Alaska

Keine Frage – ich habe unglaublich viel gelernt! Über die Natur, über andere Forscher, über Frauen die Geschichte geschrieben haben, übers Weltall, Eskimos, Indianer und sogar Pilze. Die Zeichnungen sind ebenfalls gut gewählt und lockern auf, doch eben diese Gedankensprünge haben die Reise nicht nur bereichert, sondern auch unterbrochen. Zwar haben diese oft der Spannung gedient, am Ende waren diese Einschübe dennoch kontraproduktiv und haben den Roman in die Länge gezogen. Das Ende habe ich mir anders erhofft und doch mag ich das Buch. Ich muss immer noch schmunzeln, wenn ich an die unbequem sitzende Menstruationstasse und die erfrischenden Kapitelüberschriften denke. Oder an die herrlichen Aufnahmen mit der Videokamera, bei denen genau beschrieben wird, was passiert. Herrlich locker beschrieben, echt grandios. Einige Stellen haben es wirklich in sich und kommen so plötzlich daher wie der Bär am See.

„Vielleicht ist ein „feministischer Dokumentarfilm über die Wildnis“ eine semantische Unmöglichkeit. Frauen kennen die brennende Macht und die Auswirkungen von Blicken auf ihrer Haut, sie kennen den Beobachtereffekt, sie spüren sich selbst hinter ihrem Blick, Männer können das nicht, weil sie das Brennen nicht kennen, ihre Position als unbeteiligte Beobachter nie infrage gestellt wird.“ (Seite 313)

Der Roman ist eine absolute Bereicherung für uns Frauen, ja, es ist ein feministischer Roman und jeder der vor hat auszusteigen, sollte vorher Erin begleiten und den Roman als eine Art „Trockenübung“ nutzen.

Viel Freude in der Wildnis!

Eure
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