Uff…wie fange ich an, wie höre ich auf. Ja, ich bin ziemlich unsicher, wie ich mein Leseerlebnis beschreiben kann. Die Kurzfassung würde wohl lauten: Stark begonnen und zu spät geendet. Klingt komisch? Okay, dann gibts die längere Fassung.
TW: Vergewaltigung
Macht
Liv lebt von außen betrachtet ein total normales Leben. Job, Mann, Kinder, Haus – was soll schon sein. So ist es meistens bei Opfern, denn niemand trägt offen zur Schau, wann und wie er verletzt wurde oder ob er immer noch mit einer Verletzung kämpft oder gar in einer Notlage ist. Leider – denn vielen könnte sicher geholfen werden, aber die Machtlosigkeit ist oft schuld.
In Liv taucht die Nacht der Vergewaltigung immer wieder auf. Die Tat ist ständig gegenwärtig, hat sie verstört. Zerstört. Die nie verheilte Wunde entzündet sich, als ihr während ihrer Arbeit im Altenheim ein Mann begegnet. Sein Parfum bei anderen Männern katapultiert sie ebenfalls zurück. Das Wissen, wo er wohnt und das sie jederzeit mit ihm sprechen könnte, hält die Tat lebendig. Ein dunkler Kreislauf, der immer enger wird, trotz der vielen Jahre. Liv hätte ihn anzeigen sollen, statt das furchtbare Geheimnis, welches immer wieder die Macht ergreift, zu wahren. Jeglicher Schutz bricht immer wieder auf. Auch die Tabletten können nicht verhindern, dass sie angreifbar bleibt.
Machtlos bleiben oder die Oberhand über die Macht haben…
Ich weiß nicht, wo die Gewalt bleibt, wenn sie verübt worden ist. Sickert sie in die Matratze?
Seite 21
Machtlosigkeit
„Macht“ (Dumont) von Heidi Furre konnte ich aus Zeitgründen nicht am Stück lesen, was wohl auch gut so war, denn das Thema ist kein Leichtes. Und doch war ich nach jedem Einstieg wieder an Livs Seite. An der Seite einer Frau, die täglich mit sich ringt, weil der Mann, der sie zum Opfer gemacht hat, ohne jegliche Konsequenz lebt.
Heidi Furre schreibt nicht wirklich viel über die Tat, sondern gibt der Protagonistin selbst Platz. Sehr viel Platz für ihre Gedanken, ihren Alltag, ihre Erinnerungen und ihren Lebenslauf. Wünsche, Hoffnungen, Selbstreflexion, Bitterkeit, Hass – Gefühlschaos pur. Beim Lesen graben sich die tiefen Worte ein und gehen unter die Haut. Ein wahnsinnig heftiges Thema, sehr feinfühlig umgesetzt.
Manchmal ist es schlimmer zu sagen, ich bin vergewaltigt worden, als tatsächlich vergewaltigt zu werden.
Seite 135
Beim Lesen fühlte ich mich wie ein gespannter Pfeil im Bogen kurz vorm Loslassen. Und dann – ohne Vorwarnung geht die Spannung verloren, ein seltsames Gefühl. Als ob ich die ganze Zeit gelauert hätte, auf andere Sätze, auf weitere Situationen – ich weiß es nicht.
Ein unpassendes und plötzliches Ende lassen mich ratlos zurück. Ein Ende nach Seite 136, maximal nach Seite 157 wäre stimmiger und nah an perfekt gewesen! Und doch: ein wichtiges Stück Literatur.
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