Was war ich neulich erschüttert. Meine Oma hat mich total aus der Fassung gebracht, als ich sie mit meiner neusten buchigen Errungenschaft, „Meeresrand“ von Véronique Olmi, in der Hand, sah. Natürlich kann sie mein Buch ansehen, aber doch nicht die letzte Seite lesen, mich entsetzt ansehen und sagen: „Oh nein, das wäre kein Buch für mich. Das ist ja schlimm.“ Ich habe bis zu diesem Tag nicht gewusst, dass meine Oma auch so eine ist. Eine die das Ende zuerst liest. Sie macht das immer so, antwortete sie mir ganz trocken. Ich wusste also, dass mich das Ende packen wird, aber nun mal von vorn und natürlich verrate ich dir nicht, was auf der letzten Seite passiert.
Am Indiebookday habe ich mir in der Buchhandlung „LeseLust“ dieses schmale Buch gekauft. Buchhändler Sven Bernitt meinte, dass ich mich darauf einlassen muss, da Olmi sehr eigen & poetisch schreibt. Umso neugieriger wurde ich und innerhalb weniger Stunden war ich durch. Nicht zum ersten Mal machte ich die Erfahrung, dass oftmals die kleinen, schmalen, unscheinbaren Bücher erschlagen und nicht die dicken, schweren. Olmis Buch hat mir sehr zugesetzt und es ist keinesfalls ein Buch für zarte Gemüter oder gar junge Mütter. Ich kann dir gar nicht sagen, wem ich es empfehlen würde. Es ist jedenfalls keine Strandlektüre und es wirkt heftig nach, erschüttert und verstört.
Meeresrand
Ich mag es, am Meeresrand zu stehen. Die Füße im Sand, die wärmende Sonne auf dem Körper, lachende und entspannte Menschen um mich herum. Einmal am Jahr muss ich zum Meer. Lesend bin ich gerade zurück, allerdings war es kalt, es hat geregnet und die Stimmung war düster. Ein unheilvoller Ausflug, den ich so nicht wiederholen möchte.
Die Kinder sollen das Meer sehen. Das Meer ist für Kevin (5), Stan (9) und ihre Mutter in greifbarer Nähe. Sie fahren mit dem Nachtbus ans Meer. Die Kinder sind müde, es ist kein Reisewetter und es sind auch keine Ferien. Doch die Mutter meint es gut, sie möchte einmal nur mit ihnen verreisen, ihnen zeigen, wie schön es am Meer ist. Sie möchte mit ihnen zusammen sein, die Depression ausblenden, auf die Kirmes gehen, einfach viele schöne Stunden verbringen.
Atemraubend
Das Hotel ist eine Absteige, die Sachen sind nass vom Regen, es wird nicht richtig wohnlich warm und das Geld war nie vorhanden. In einer Teedose ist noch ein wenig Klimpergeld, die Mutter ist müde, die Kinder sind hungrig und Stan muss für Kevin und auch für seine Mutter da sein. Er war schon immer der starke große Junge, der alles überwacht, sich fremdschämt und doch da ist, wenn in ihr die Panik ausbricht.
„Ich könnte nicht einen ganzen Tag lang aufbleiben, dies oder das erledigen, liebenswürdig sein, höflich und strahlend, nein, ich könnte nie einen ganzen Tag lang die Augen offenhalten. Schade, daß der Schlaf zwei Gesichter hat: Vergessen, aber auch Bedrohung. Nie weiß man im vorhinein, auf welche Seite man fällt.“ (Seite 63)
Véronique Olmi ist eine wahrhaft großartige Erzählerin. Sie packt uns Leser an der Wurzel und lässt uns die Stimmung aufsaugen. Sie flößt uns zärtlich zerstörerische Worte ein und schiebt uns ganz langsam und kaum spürbar an den Meeresrand. Es gibt keine Dialoge, wir erleben die Reise aus Sicht der sozialschwachen Mutter. Wir erlesen ihre Gedanken, handeln mit ihr und können nicht eingreifen, nur zusehen. Olmi spült uns den Sand aus den Augen und lässt das Meeressalz darin kribbeln.
Dramatisch, intensiv, deprimierend düster, bedrückend, hoffnungslos, atemraubend und massiv erschütternd. Sprachlich grandios und tagelang nachwirkend.
Im Regal sollte „Meeresrand“ (Kunstmann) neben „Dann schalf auch du“ (Luchterhand) von Leïla Slimani stehen. Verstörend, aber gut.