Als ich den Roman „Die rechtschaffenen Mörder“ von Ingo Schulze aufschlug, befand ich mich in Dresden Johannstadt. Das ist öfter so, weniger oft kommt es vor, dass der Handlungsort der benachbarte Stadtteil ist, der mir gleich im ersten Satz begegnete: „Im Dresdner Stadtteil Blasewitz lebte einst ein Antiquar, der wegen seiner Bücher, seiner Kenntnisse und seiner geringen Neigung, sich von den Erwartungen seiner Zeit beeindrucken zu lassen, einen unvergleichlichen Ruf genoss.“
Ja, das ist schon genial und nicht verwunderlich ist es, dass ich erst nach 196 Seiten eine erste Lesepause einlegte. Der märchenhafte Beginn, die Nähe zum Handlungsort, aber dann…
Dresden Blasewitz
Ingo Schulze lebt zwar in Berlin, er ist aber gebürtiger Dresdner und kennt sich hier im Elbflorenz aus. Bisher sind mir seine Bücher noch nicht begegnet, meine Aufmerksamkeit hat er seit der Nominierung zum Leipziger Buchpreis 2020. Nun endlich wollte ich mitreden und legte mich zum Lesen in den Liegestuhl auf Balkonien, der schon vom Stoff her perfekt zum Roman passt.
Für uns Büchermenschen gibt es nichts Schöneres, als wundervolle Buchhandlungen oder Antiquariate mit Inhabern die sich mit Leidenschaft um ihre Buchschätze kümmern und uns genau das richtige Buch in die Hand drücken. Norbert Paulini gehört zu diesen Menschen – er wollte schon immer Leser werden, er wusste, dass das seine Bestimmung ist.
„Er hatte sich für das intensivste und angenehmste Leben entschieden, das einem Menschen möglich war, für das Leben eines Lesers.“ (Seite 59)
Antiquar Paulini
Klingt das nicht gut? Ingo Schulze entführt uns in die Welt von Paulini der es schafft, sich ein traumhaftes Leben zwischen Büchern aufzubauen. Es fühlt sich großartig an, erst seine Naivität zu erleben und dann tatsächlich mit ihm in sein eigenes Bücherreich zu ziehen. Paulini kennt sich mit der Literatur aus und ich wäre mehrmals gern losgelaufen, zu ihm rüber ins Antiquariat und hätte mir neuen Lesestoff geholt oder wäre an den vielen Regalen vorbei geschlendert und hätte die Buchrücken gestreift und durch die Seiten geblättert.
Paulini hat für seine Bücher gelebt und sich gern vorm Weltleben gedrückt, ich konnte es ihm kaum verübeln. Und dann? Dann zerbricht seine Ehe, seine Frau hat Stasi-Verbindung, seine Bücher müssen bei der großen Flut Elbwasser kosten, aber noch viel schlimmer sind seine folgenden Worte und die Tatsache, dass die Polizei ihn verdächtigt…
„Kümmert Sie das nicht, dass ich hier oben hausen muss, während sich Tausende, Zehntausende frisch zugereister junger Männer aussuchen dürfen, in welcher Stadt sie sich auf unser aller Sozialhilfepolster niederzulassen die Güte haben, um fleißig weiter Kinder zu zeugen und zwischendurch ihre Stirn auf dem Moscheeteppich zu wetzen? Finden Sie das denn gerecht? Ich hab nichts gegen Ausländer, ich werde sogar einen einstellen. Es gibt nämlich solche und solche.“ (Seite 195/196)
Buchblase platzt
Paulini öffnet seine Augen, bricht aus der Buchblase aus und wird vom herzensguten Büchermensch zum Pegidaanhänger? Uff…
Mit diesem innerlichen Uff endet auch der erste von drei Teilen und zwar mitten im Satz. Stark gemacht!
Ingo Schulze präsentiert uns endlich im zweiten Teil den Mann, der uns im ersten Teil von Paulini erzählt. Er trägt den Namen Schultze und kennt Paulini schon sehr lange, er ist ein Kunde von ihm und möchte ihm ein Denkmal setzen. Gleichzeitig ist Paulini aber auch sein größter Konkurrent, denn er hat ein Verhältnis mit Lisa, Paulinis Mitarbeiterin. Nach und nach entblättert Ingo Schulze die Geschichte von seinem Protagonisten Schultze und wendet das literarische Blatt. Damit aber nicht genug, denn der Kriminalfall, der bisher auf sich hat warten lassen, beginnt im dritten Teil. Bis dahin habe ich mich gefragt, ob der Titel „Die rechtschaffenen Mörder“ wirklich passend ist.
Drei Teile
Das literarische Blatt dreht sich erneut und eine weibliche Protagonistin führt uns bis zum Ende des Romans. Sie ist die Lektorin von Schultze und begibt sich selbst auf Recherchereise. In der Sächsischen Schweiz erhofft sie sich Antworten auf offene Fragen, da sie ihm misstraut und doch bestrebt ist, sein begonnenes Werk mit ihm zu beenden. Könnte er vielleicht der Mörder sein?
Als ich den letzten Teil beendete, musste ich erst mal eine Runde durch den Großen Garten spazieren und meine Gedanken ordnen. Zudem suchte ich den Austausch zu anderen Leser*innen – der Roman ist perfekt für einen Lesekreis geeignet.
Ich habe überhaupt nicht damit gerechnet, dass sich hinter dem schlichten Buchregalcover so ein strukturierter Roman verbirgt, der sich dreht und wendet und so facettenreich ist. Und doch passt das Cover zu Paulini, der auch erst als harmloser Antiquar erscheint und sich letztendlich als ein ganz anderer Mensch entpuppt. Der erste Eindruck kann täuschen und ja, der Schein trügt ebenfalls.
Rechtschaffene Mörder
Die drei Teile sind wirklich meisterhaft konstruiert und ich musste diese regelrecht verarbeiten, die drei Brüche verinnerlichen. Erst die malerische und märchenhafte Bücherwelt und viele kurze Kapitel. Anschließend das chaotische Schriftstellerleben mit tragischem Ereignis, an einem Stück erzählt. Zuletzt die Lektorin, die den Kriminalfall aufrollt und eine Struktur schafft. Ingo Schulze hat wahrlich Talent, das Leserherz in drei verschiedene Rhythmen zu bringen. Aus leichter, bequemer Unterhaltung wird fordernde Kost mit politischem und unbequemen Hintergrund.
Schulze zeigt recht schonend, wie wir uns in Menschen täuschen können. Sein Roman ist eine literarische Bereicherung, eine Art Buchüberraschungsei – Schulze setzt uns eine klare Brühe vor, die er Seite um Seite so verfeinert und würzt, dass nach 320 Seiten der Grund nicht mehr zu sehen ist.
Augenöffnend!