Bevor ich durch die Nacht gelaufen, geirrt, gerannt und am Ende etwas gestolpert bin, hat mich ein Brief erreicht. Den sollte ich allerdings erst nach dem Lesen der knapp 300 Seiten öffnen. Haptisch haben sich die Seiten des Buches richtig weich angefühlt, die darauf gedruckten Buchstaben dagegen hart.
Auf der Verlagsseite steht: „Lesungen dieses Autors sind in naher Zukunft nicht geplant.“ – richtig, Autor Stig Sæterbakken hat sich 2012 das Leben genommen, im Roman war es der 18-jährige Ole-Jakob, Sohn des Erzählers Karl.
Ich hatte mächtig Respekt vor der Wucht des Romans.
Respekt
„Ich dachte: Trauer ist eine Gabe. Menschen, die nicht unglücklich sind, haben nichts, was sie erzählen können.“ (Seite 201)
Nicht nur ich habe dieses Zitat im Roman markiert, sondern auch der Briefschreiber und Dumont-Verlagsmitarbeiter Torsten Woywod. Worte, die sich vom Gehirn nicht einfach verarbeiten lassen. Genau wie letztendlich das ganze Buch. Selbst heute bin ich im Rückblick unsicher, ob ich alles so verstanden habe, wie es der Norweger Stig Sæterbakken wollte. Aber selbst wenn nicht, mich hat das Werk fasziniert und ich habe es sehr schnell verschlungen.
Mich hat es regelrecht durch den Schmerz getrieben und in Erzähler Karl habe ich den Autor selbst gesehen. Von Anfang an, ohne Wenn und Aber. Überhaupt habe ich mich sehr schnell in den Charakter einfühlen können. Ich habe ihn akzeptiert und keine Situation infrage gestellt, für mich war da nur Tiefe, selbst als die Zeit vor Ole-Jakobs Tod mit Scheinwerfern beleuchtet wurde.
Die Trauer, das Verarbeiten des Verlustes sind so übermächtig, so nachvollziehbar. Dieses Auf und Ab – die Wellen der Emotionen, das Starksein, die Tapferkeit, um dann dem Zusammenbruch erneut zu erliegen…
Jedes Wort habe ich respektiert, akzeptiert, nie dulden müssen.
Stig Sæterbakken hat sich 2012 das Leben genommen und als Leser bin ich zwar nicht 1:1 in der Situation wie Karl, aber in einer sehr ähnlichen. Ich frage mich: warum? War es der Schmerz? Wie viel Realität, wie viel Leben von Sæterbakken stecken in Karl und auch in Ole-Jakob?
Durch die Nacht
Mir wurde zugetragen, dass viele Leser den Roman überhaupt nicht mochten, ihn zu egoistisch empfunden haben, weil die Figur des Karls ein Selbstdarsteller ist. Ja – in der Tat muss ich zustimmen, gleichzeitig aber auch widersprechen. Es gibt schließlich ein Leben vor Ole-Jakobs Tod und Karl hat nun eben nicht die klassischen Ansichten, was seine Ehe betrifft. Er erzählt uns von Mona, er erzählt uns von seiner Frau und immer wieder von seinem Sohn und der tiefen Wunde, die den Namen Verlust trägt.
„Herausstehende Nägel werden mit dem Hammer eingeschlagen. Dasselbe gilt für Erinnerungen.“ (Seite 160)
Wenn ich lese, möchte ich lesen und ich versuche, die Worte nicht zu bewerten, sondern zu respektieren und zu akzeptieren. Das ist mir beim Roman „Durch die Nacht“ sehr gelungen – ich habe jedes Wort aufgesaugt, höchstens mich selbst gewendet und gedreht.
Auf seiner Reise in die Slowakei habe ich Erzähler Karl fast ein wenig verloren und doch bin ich mit in dieses Haus – in dem man, so heißt es, mit seinen tiefsten Ängsten konfrontiert wird – und das man entweder gebrochen oder geheilt verlässt. (Klappentext)
Die Nacht ist nicht dunkel, sondern tiefschwarz, bereitet ein literarisches Meer aus Irrlichtern aus und lässt es in uns zurück.